Die letzte Berliner Stadtbärin ist gestorben

Die Stadt im Pelz

Zum Tod von Schnute, der letzten Berliner Stadtbärin.

Das beengte Zuhause der letzten amtierenden Stadtbraunbärin Schnute im Köllnischen Park in Berlin-Mitte erschreckte beim ersten Anblick: klein und viel Stein. Kam man öfter an dem Tiergefängnis unweit der Spree vorbei, konnte man sehen, dass das Tier als Stadtbewohnerin wahrgenommen wurde. Kein Wunder, in einer Stadt einer Größe von drei Millionen Einwohnern rennen so viele Freaks rum, dass Wesen, die sich in Fell hüllen und brummen, willkommen geheißen werden. »Hey Schnute, am Wochenende jehn wa aus!«, war durchaus eine gängige Begrüßung der Fußgänger. Nicht ohne hinzuzusetzen: »So jut hätt ick ditt ooch mal jerne. Und jetze jeh ick aba erstma uffs Amt.« Sozialamt, logo.
14 Jahre lang kam ich fast täglich an dem Tierhaus vorbei, es liegt auf dem Weg zur Arbeit. Da grüßt man irgendwann auch: »Bär Bär … «. Ursprünglich lebte Schnute mit Stadtbär Tilo und Tochter Maxi. Beide sind schon länger hinüber.
Schnute, wiewohl 24 Stunden im Amt, ­hatte einen Biorhythmus wie ein Verwaltungsapparat in den Siebzigern. Sie stand morgens auf, ließ den Kopf rollen, um mit extrem beweglicher Nase Morgenluft zu wittern. Dann grub sie ein Loch in den Rindenmulch, setzte sich mit ihrem Hintern dort hinein und streckte alle Tatzen von sich. Sie liebte Bequem­lichkeit. Hunger? Hochhängendes Futter ignorierte sie. Sie nahm gern ein Bad, die Grenzgängerin zwischen den Bezirken Mitte und Kreuzberg.
Ihr mit Fell lose bekleideter Leib war nicht von Sport geformt; hier und da ein Loch im Pelz. Schnute war Faulheitsdarstellerin, Paul-Lafargue-Model, ein Maskottchen der Untätigkeit in einer Zeit, in der alle busy sind, selbst beim Chillen. Sie sei als Kind zurückhaltend gewesen, berichten Experten des Vereins Berliner Bärenfreunde. Beim Fressen habe sich stets der Bruder vorgedrängt. »Sie hat wenig mit Taps gespielt, er war grob und dominant. Zu den Pflegern war er nett.«
Schnute hatte sich in der letzten Zeit rar gemacht. Das Tier war vor allem hintenrum stark abgemagert, die Knochen stachen hervor wie bei einer hungernden Kuh. Starke Arthrose. Der frühere Mit- und hauptamtliche Stadtbär Tilo ist an Lymphknotenkrebs eingegangen – sie sterben sogar an denselben Sachen wie wir. »Wir haben eine Kanzlerin, warum nicht auch eine Stadtbärin«, kommentierte Bärenvereinspräsidentin Christa Junge die Amtsübernahme von Schnute.
Tierschützer stiegen dem Bezirksamt aufs Dach, sie plädierten für einen Umzug in den Bärenwald. Die Organisation Vier Pfoten hatte in ihrem Bärendeutschlandbericht von 2012 durchgerechnet, dass von den angegebenen 480 Quadratmetern Gehegefläche ein beträchtlicher Teil auf den Wassergraben entfalle, den die hüftkranken Bewohner nur schwerlich nutzen könnten – Betrug bei der Wohnfläche, ein gängiger Fall für den Berliner Mieterverein.
Die Forderung, Schnute in den Bärenwald umzusiedeln, wurde von den zuständigen Tierärzten abgelehnt. Die notwendige Narkose könne Schnute womöglich umbringen. Dieselben Leute haben sie dann eingeschläfert. Ihre letzte Nacht verbrachte sie im Freien, vor Schmerzen konnte sie nicht mehr in ihr Bett. Beide Hüftgelenke waren ausgekugelt. So geht’s einem nach 34 Jahren Knast.
Nichtsdestotrotz manifestierte sich – neben dem Bärenamt als Wappentier – in ihrer Anwesenheit auch eine politische Funktion. Solange die Tierdame dort residierte, konnte der Park nicht umgestaltet werden. Nicht nur Gesprächspartnerin, auch eine Ikone der Antigentrifizierung – der Berliner Theaterkünstler Andreas Walter hat ihr eine Folge seiner Stofftiersoap »Humana Leben« auf den Pelz geschrieben. Da reißt sie aus, gewinnt den Berlin-Marathon und lässt sich von Aliens zu einem anderen Planeten fliegen: »Das ist nicht mehr meine Stadt«, brummt sie recht modern.
Schnute war Ost; ihr Gehege im Köllnischen Park war es nicht immer. Es wurde bereits 1939 eröffnet, in Anwesenheit einer Vielzahl von Nazi-Bonzen. Der Grund, warum Bären gehalten wurden, war so verrückt wie vieles. Ein Leserbrief war in der Lokalzeitung erschienen, in dem beklagt wurde, dass es nichts Lebendes in Mitte gäbe, dem man mal eine Torte vorbeibringen könne. Sowas wird gleich umgesetzt, anderes bleibt liegen.
Heute hinkt der Standort etwas hinterher, aber nicht viel. 500 Meter weiter frisst sich die Tunnelbohrmaschine »Bärlinde« durch den Boden für den Irrsinn der Verlängerung der U-Bahn-Linie 5, die dann bald parallel zur S-Bahn fahren wird. Dem Deutschen Historischen Museum fallen die Figuren vom Dach.
Die Friedrichswerdersche Kirche, Berlins herausragendes Baudenkmal, ist in der Mitte durchgebrochen, weil das angrenzende Luxuswohnprojekt »Prinzessinnengärten« unbedingt zwei Etagen Tiefgarage braucht. Sehen kann man von der Kirche auch nichts mehr, sie wird komplett zugebaut. Ein Verbrechen: Der Tagesspiegel verglich das Vorgehen mit der Sprengung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban im Jahr 2001. Das Haus am Köllnischen Park, hier fand einst der Taz-Kongress statt, ist auch schon teilweggesprengt.
Noch ist es im Park selbst ruhig, ein bisschen schrammelig. Wenige Touristen. Zille-Denkmal, historische Litfasssäule. Das angrenzende Märkische Museum präsentiert den letzten Richtblock Berlins. Mit dem letztem Richtbeil. Mit dem letzten Blut eines Hingerichteten. Umliegend befinden sich der Umweltverband BUND, die Gewerkschaft IG BCE, der historische Hafen. Unweit liegt die Fischerinsel, deren Wohnsiedlung bekannt wurde, weil sie über Müllschlucker verfügt. Die die Hausverwaltung abbauen will. Türkische Botschaft, chinesische Botschaft, Obdachlose, die unter der Jannowitzbrücke wohnen. Deutschlands optisch perverseste Shopping Mall, das Alexa.
Was wird hierher kommen? Luxuswohnungen, what else. Was Berlin am meisten fehlt. Sie werden in den »Metropol Park« gebaut; früher hieß der Bau »Karl Marx« und diente als Parteischule der SED. Neue Bären kommen dagegen nicht, da sind sich alle Verantwortlichen einig.
So endet die Ära des Bärentums in Berlins Stadtmitte nach 76 Jahren. Vor dem Zaun des Geheges von Schnute haben Passanten kleine Blumengebinde und Kerzen abgestellt. Auf einer steht: »Du fehlst.« Das Lebendige wird vermisst. Auch der Berliner ist irgendwie eine aussterbende Tierart.