Elif Şahin-Kubista im Gespräch über Gewalt gegen Frauen und Kinder in Flüchtlingsunterkünften

»Es gibt keinen Schutz«

Das Internationale Frauencafé in Nürnberg hat im Sommer mit einem offenen Brief zur prekären Situation und den spezifischen Bedrohungslagen und strukturellen Gewalterfahrungen von Frauen in den Flüchtlingsunterkünften Alarm geschlagen. Die Jungle World sprach mit Elif Şahin-Kubista über strukturelle Gewalt in den Unterkünften.

Sie kamen vor vielen Jahren selbst als politischer Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland und waren in einer Sammelunterkunft untergebracht. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
1995 kam ich als 16jährige alleine nach Deutschland und habe Asyl beantragt. Ich war minderjährig und konnte die Sprache nicht. Ich kam zunächst nach Zirndorf (bei Nürnberg/Mittelfranken, Anm. d. Red.) in die zentrale Anlaufstelle für Asylsuchende. Am gleichen Tag wurde ich in die Erstaufnahmeunterkunft nach Deggendorf (Niederbayern, Anm. d. Red.) gebracht – das war eine große, gemischte Sammelunterkunft mit Einlasskontrollen. Obwohl ich minderjährig war und Verwandte in Nürnberg hatte. Mein erstes Trauma hatte ich dort gleich am ersten Tag: Die haben mich einfach in ein Zimmer gesteckt und die Tür zugemacht. Ich habe mich erst nicht getraut, das Zimmer zu verlassen, mich gefragt: Wo bin ich? Warum bin ich hier drin und was mache ich jetzt? Dieses Angstgefühl, wenn man nicht weiß, was jetzt mit einem passiert, kann ich bis heute nicht vergessen, ich fühlte mich wie im Gefängnis. Meine Verwandten haben in der Zeit versucht, mich da rauszuholen, das hat drei Monate gedauert. Ich bin mehrfach Beleidigungen ausgesetzt gewesen und war in der Unterkunft konfrontiert mit vielen alleinstehenden Männern, die da schon seit Jahren gewohnt haben und mir immer wieder Geld für Sex anbieten wollten. Es gab zwar nach Geschlechtern getrennte Gemeinschaftsduschen, aber die Türen und Fenster waren alle offen, das war kein sicherer Ort. Zum Glück hat sich dann ein kurdisches Ehepaar um mich gekümmert. Die konnten wenigstens Englisch und haben mich in Schutz genommen, vor zudringlichen Männern und den Beamten. Diese Familie hat mich damals wirklich gerettet – in der Unterkunft gab es neben Drogenhandel auch Frauenhändler, wie ich später noch erfahren habe.
Hat sich an der Unterbringungssituation seither etwas verändert?
Grundsätzliche Veränderungen gibt es nicht, außer dass die Minderjährigen seit ein paar Jahren gesondert behandelt werden. Wir haben im Frühling dieses Jahres Flüchtlingsheime hier in Nürnberg und Umgebung besucht und gesehen, dass es in vielen Unterkünften immer noch die gemischten Zimmer gibt, wo Schwangere und alleinstehende Frauen mit Kindern mit fremden Männern Bett an Bett zusammenwohnen. Die Erklärung der Zuständigen war, sie hätten gerade keine anderen Plätze zur Verfügung.
Was sind die politischen Forderungen des Internationalen Frauencafés für die Unterbringung von Geflüchteten, vor allem aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive?
Unser Projekt fordert die generelle Schließung aller Flüchtlingslager, jeder soll leben können wie und wo er möchte. Frauen und Kinder müssen schnellstmöglich aus diesen Lagern raus, weg von den gemischtgeschlechtlichen Sammelunterkünften. Es müssen so schnell wie möglich alternative Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden. Zudem müssen die Akten und das Asylverfahren der verheirateten Frauen unabhängig vom Ehemann geführt werden. Für die bestehenden Unterkünfte fordern wir Schutzräume und -konzepte für Frauen, kleinere Wohneinheiten und Unterkünfte nur für Frauen, die nicht nur ein Stockwerk oder nur einen kleinen Bereich der gemeinsamen Unterkunft umfassen.
Von welchen Problemen im Hinblick auf die Unterbringung berichten die Frauen, die zu Ihnen ins Projekt kommen?
Das große Problem ist, dass viele Frauen ohnehin traumatisiert sind, sie haben in ihren Herkunftsländern oft viel Gewalt erlebt. Wenn sie es schaffen, zum Beispiel aus einem Kriegsgebiet nach Deutschland zu kommen, erfahren sie in den Unterkünften wieder Gewalt. Viele Frauen kommen alleine, manche mit Kindern. In den Lagern gibt es keinen Schutz für die Frauen, sie fühlen sich dort alleine gelassen und sind ängstlich. Manche berichten, dass sie tagelang nicht den Gang betreten oder dass sie ihre Kinder nicht frei in dem Heim herumlaufen lassen, weil es keinen sicheren Platz gibt – weil da so viele Menschen sind, die sie überhaupt nicht kennen. Eine Frau hat sich beispielsweise beschwert, dass die jungen Männer der Unterkunft ihrem dreijährigen Mädchen einfach immer wieder durch die Haare streicheln und es anfassen – sie will das nicht, kann es aber auch nicht verhindern. Frauen berichten häufig auch von sexueller Belästigung, von familiären Konflikten und ehelicher Gewalt, die sich in den Unterkünften natürlich auch abspielt.
In ihrem offenen Brief an die bayerische Staatsregierung, die Regierung von Mittelfranken und die Stadt Nürnberg werden gravierende strukturelle Probleme der Unterbringung in großen und gemischtgeschlechtlichen Unterkünften thematisiert. Welche Probleme sind das?
Es passiert in diesen Lagern häufiger, dass das zumeist männlich besetzte Personal Hierarchien und Machtpositionen ausnutzt, weil es keine Kontrolle gibt. Wir haben in Nürnberg den Fall gehabt, dass der Hausmeister einer Unterkunft ­einer Frau nachstellte. In seiner Position hatte er Schlüssel für alle Zimmer, was eigentlich für Notfälle gedacht ist. Es kam zu mehreren versuchten sexuellen Übergriffen – und eines Nachts stand er plötzlich in ihrem Zimmer. Dass die Schutzlosigkeit von Frauen ausgenutzt wird, passiert immer wieder. Dazu kommt: Gewalt ist oft tabubehaftet, die meisten Frauen sprechen nicht so ohne weiteres darüber. Die Frauen haben überhaupt keinen Schutz, sprechen die Sprache nicht, verstehen das Rechtssystem nicht. Ein weiteres Problem sind bürokratische Hindernisse, wenn Ehepaare zum Beispiel gemeinsam ankommen und Asyl beantragen und sich die Frau später trennen will. Bis die Behörden die Akten und Asylverfahren trennen, muss man sehr lange kämpfen. Und bei familiärer Gewalt macht es die Bürokratie dann noch schwerer. Für Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthaltsstatus gelten andere Gesetze als für Deutsche. Eine deutsche Frau, die zu Hause Gewalt erlebt, kann, sofern es einen freien Platz gibt, direkt ins Frauenhaus. Bei den Flüchtlingsfrauen ist das nicht so einfach.
Das Problem der Gewalt durch die Unterbringungsart wird häufig auf ein Problem unter Männern reduziert, die in Gruppen oder sogenannten Massenschlägereien aufeinander losgehen.
Diese Art von Diskussionen in Deutschland sind eine Unverschämtheit. Wir wissen, dass die größte Gefahr für die Flüchtlinge nicht von den Flüchtlingen ausgeht, sondern von Fremdenhass, Nazistrukturen und Rassismus. Was die Gewalteskalationen in den Flüchtlingsheimen angeht: Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Zimmer mit fünf unterschiedlichen Nationalitäten, unterschiedlichen Religionen, mit unterschiedlichen Einstellungen, und das Ganze über einen ungewissen Zeitraum. Das ist nicht einfach, das kann kein Mensch aushalten.
Immer wieder werden Forderungen nach einer separaten Unterbringung der Flüchtlinge laut – getrennt nach religiöser Zugehörigkeit oder ethnischer Herkunft. Halten Sie diese Art getrennter Unterbringung für sinnvoll, um Gewalt zu vermeiden?
Die Probleme könnte man vor allem lösen, wenn man die Flüchtlinge in Deutschland »auf freien Fuß setzen« würde, also Reisefreiheit gewährt, sie private Wohnungen beziehen lässt. Das Problem bei der gemeinsamen Unterbringung besteht darin, dass Politiker und Akteure wie der »Islamische Staat« und ähnliche Organisationen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge den Hass schüren, mit den ethnischen oder religiös-konfessionellen Spannungen spielen. Dass es unter Flüchtlingen in den großen und improvisierten Unterkünften zu gewalttätigen Konflikten kommt, betrachte ich eher als langjähriges politisches Versagen. Deutsche Politiker hätten längst Strategien erarbeiten müssen – gegen Rechtsradikale und Islamisten.
Neben staatlich bedingten Strukturen, die ­Gewalt gegen Frauen in den Unterkünften fördern, sind Flüchtlingsfrauen auch noch mit dem Sexismus ihrer männlichen Mitbewohner konfrontiert. Sie sprechen von sexueller Belästigung und Etikettierung alleinstehender Frauen als »Schlampen« oder »Huren« bis hin zu körperlichen Attacken. Inwiefern hängen beide Gewaltstrukturen zusammen oder bedingen sich?
Wenn Männer die Unterdrückungsmethoden aus ihren Ländern und ihrer Sozialisation mit hierherbringen, egal ob sie alleine kommen oder mit Familie, etablieren sie das Patriarchat in den Unterkünften. Sie versuchen, ihre patriarchalen Machtstrukturen auch in den Unterkünften aufrechtzuerhalten und durchzusetzen – egal ob sie die Frauen persönlich überhaupt kennen oder nicht. In der Isolation und Hierarchie der Unterkünfte nehmen die Männer eine kontrollierende Rolle ein, wenn sie wissen, eine Frau kommt aus demselben Land. Wenn die Frauen dort in der Regel beispielsweise Kopftuch tragen und die Frau, von der sie wissen, sie kommt aus »ihrem« Land, weicht davon ab, trägt kein Kopftuch, dann wird es für die Frau schwierig. Sie werden sie nicht in Ruhe lassen, sie werden sie beschimpfen, ihr Leben einengen und versuchen, ihr die traditionelle Vorstellung von Ordnung aufzwängen.
Sie sprechen von einem »hohen Maß sozialer Kontrolle«, insbesondere Frauen würden durch männliche Mitbewohner »gemaßregelt« und dazu angehalten, sich »züchtig« zu kleiden und zu verhalten – woher kommt dieser Druck?
Eine junge syrische Frau, die sich weiterbilden wollte und die kein Kopftuch getragen hat, ist beispielsweise von den Männern in ihrer Unterkunft ständig beleidigt und angefeindet worden. Dann hieß es, warum müsse sie unbedingt studieren, kann sie nicht einfach so hier leben, Frauen sollten nicht studieren. In der Flucht- und Unterbringungssituation erfahren diese Strukturen eine Verstärkung. Wir wissen, gerade auch durch die Schilderungen von syrischen Flüchtlingsfrauen, dass es auch hier Menschen gibt, die radikalislamistisch agieren, und dass dieser Einfluss die Frauen noch in den Unterkünften erreicht, Druck auf sie ausübt, sie unterdrückt. Und für diese Gruppen oder Organisationen sind Frauen unnütze, unwürdige Menschen, die man wie Dreck behandelt.