Die Proteste gegen Flüchtlinge in den Niederlanden werden aggressiver

Land im Widerstand

Die Flüchtlingsdebatte in den Niederlanden spitzt sich zu. Überall regt sich ­Protest – längst nicht mehr nur friedlich.

Es war ein Freitagabend, als in Woerden der Aufstand begann. Viermal knallte es kurz hintereinander, so heftig, dass Jan Buurman* erschrocken aus dem Bett sprang. Vom Fenster seines Eigenheims blickte er auf den dichten Rauch, der drüben auf der anderen Seite der Straße hing, genau über dem Sportzentrum Snellerpoort, wo seit wenigen Tagen 150 Flüchtlinge untergebracht waren, ein Drittel davon Kinder. Dann sah Buur­man, der lieber nicht seinen wirklichen Namen nennen möchte, wie eine Gruppe vermummter junger Männer von der Halle herübergerannt kam, zwischen den Häusern seiner Neubausiedlung hindurch lief und weiter in die Nacht verschwand.
Die Rauchbomben, gezündet vor der Flüchtlingsnotunterkunft des Städtchens bei Utrecht, waren ein Novum. Bislang wählten die Niederländer Geert Wilders, wenn sie sich von vermeintlich zu vielen Zuwanderern oder Asylbewerbern umgeben sahen. Sicher schimpften viele auch über die buitenlanders (Ausländer) oder allochtonen, doch tätliche Übergriffe, wie sie aus Deutschland mehrfach wöchentlich berichtet werden, gab es hierzulande bislang nicht.
Die neue Lage ist offenbar verwirrend. »Vielleicht«, meint Jan Buurman ein paar Tage später, »war es doch nur eine Aktion von Jugendlichen, die aus der Kneipe kamen.« Aber warum dann ausgerechnet bei der Halle mit den Flüchtlingen? »Ein leichtes Ziel, um die Aufmerksamkeit der Medien zu bekommen.« A propos Medien: Ein Zeitungsbote kommt vorbei mit dem regionalen Gratisblatt. Er reicht Buurman ein Exemplar. »Die Flüchtlinge sind weg aus Woerden«, steht auf der Titelseite. Einen Tag zuvor hat man sie in ein anderes Auffangzentrum gebracht. Buurman sagt, was ihn betrifft, könnten ruhig wieder neue kommen.
Während in Woerden die Ruhe wiedergekehrt ist, werden in der Tweede Kamer des Parlaments in Den Haag schwere Geschütze aufgefahren. ­Geert Wilders, Vorsitzender der zuwanderungsfeindlichen Partij voor de Vrijheid, geht auf Konfrontationskurs mit jedem, der der Flüchtlinge nicht überdrüssig ist. Andererseits gibt es eine Mehrheit dafür, den Vorrangstatus anerkannter Asylbewerber für eine Wohnung abzuschaffen. »Einfacher Auffang« heißt das Konzept, das dieser Tage bei den meisten Parteien wie selbstverständlich auf Zustimmung trifft. Anspannung und Druck sind spürbar, die Botschaft von Woerden deutlich: Den Parteien könnte ­diese Sache aus den Händen gleiten.
Schon seit Wochen äußert sich in den Niederlanden Protest gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Und wie die Balkanroute im Spätsommer einen neuen Weg der Migration nach Europa darstellte, mit Orten wie Gevgelija, Röszke, Presevo und Tovarnik, entsteht nun eine niederländische Landkarte des Unmuts: In Purmerend wird eine Versammlung des Stadtrats gestürmt, der über ein Auffangzentrum diskutiert. In Wezep sieht man nach Protesten von der Aufnahme von Flüchtlingen ab. Und in Montfoort, nur gut zehn Kilometer von Woerden entfernt, taucht im Zentrum auf Transparenten und Graffiti die Parole »Eigen volk eerst« auf. Verantwortlich: eine örtliche Initiative namens »Unser Montfoort flüchtlingsfrei«.

Rund 40 000 Asylbewerber haben die Niederlande in diesem Jahr bislang aufgenommen, und täglich kommen rund 700 neue dazu. Zwei Drittel der Teilnehmer einer aktuellen Umfrage sind dagegen, noch mehr zuzulassen – wenige Wochen zuvor waren das noch 56 Prozent. Am Abend der Parlamentsdebatte geht es auch bei Pauw, einer der tonangebenden Polittalkshows, um diese Frage. Zu Gast sind zwei Kommunalpolitiker aus Rijswijk, einem Vorort von Den Haag. Beide haben kürzlich Drohbriefe bekommen: »Guten Tag Yvonne«, liest die Sozialdemokratin Yvonne Hagenaars aus dem Brief vor, den sie nach der Arbeit frankiert und handschriftlich adressiert in ihrem Briefkasten fand. »Zuerstmal, was für herrliche Töchter hast du. Mmmmm. Wenn hier ein Asylantenheim hinkommt, besuch ich sie mal in der Schule. Denk mal gut nach über das Asylantenheim ok.«
Am nächsten Morgen ist es noch nicht einmal hell, als Hagenaars schon in ihrem Auto sitzt. Als Lehrerin an einer Berufsschule hat sie sich vor der ersten Stunde Zeit genommen für einen Ortstermin. Entlang von Bürogebäuden fährt sie zu der Abrissstelle, wo hinter einem Bauzaun noch die Ruinen einer Hochschule stehen. Der Gemeinderat in Rijswijk beschloss mit großer Mehrheit, dort ein Zentrum für 500 Flüchtlinge zu errichten. Protestiert hat nur eine Lokalpartei namens »Besser für Rijswijk«. Hagenaars nimmt auch diese Stimmen wahr: »Wir dürfen nicht blind sein gegenüber berechtigten Befürchtungen, dass im Gegenzug bei sozialen Einrichtungen gekürzt werden könnte.«
In ihrer Tasche hat sie eine Kopie des Briefes, den sie standhaft »Einschüchterung, nicht Bedrohung« nennt. Ganz Lehrerin, hat sie darauf einen Rechtschreib- und einen Orthographiefehler angestrichen. Yvonne Hagenaars hat einiges erlebt in ihrer politischen Laufbahn. »Einmal, als ich auf dem Markt Flyer verteilte, meinte jemand, man müsse mich verbrennen. Und ich hatte mal einen anonymen Anrufer, der sagte, er wisse, wo meine Kinder zu finden sind.« Mindestens acht Kollegen aus dem Stadtrat hätten bereits einen Brief bekommen, jeder mit einem persön­lichen Text. »Meiner ist einer der schlimmsten.«
Wer von dieser Frau nun einen Abgesang auf die politische Kultur erwartet, wird enttäuscht. Gestern Abend vor der Talkshow wurde sie nach einem negativen Kipppunkt in der öffentlichen Meinung gefragt. »Ich erwarte einen positiven. Dass die Leute sagen, wir müssen doch mal aufhören, Flüchtlinge so zu behandeln. Neulich waren da zwei Schüler in meiner Klasse, die sagten: ›Wenn wir fliehen müssen, wollen wir doch auch, dass jemand uns aufnimmt.‹« Bevor sie sich aufmacht in die Schule, sagt sie noch: »Ich habe Vertrauen in die Demokratie und darauf, dass wir uns mit Argumenten beschießen.«
Man kann sich das mit den Argumenten in diesem Land derzeit wie eine Wippe vorstellen. Auf der einen Seite der verbale Diskurs, auf der anderen eher postverbale Maßnahmen, um der eigenen Position Nachdruck zu verleihen.

Gut möglich, dass Oranje der Ort war, an dem der bürgerliche Aktionismus die Überhand ­gewann. Natürlich trugen auch die Umstände das ihre zur Signalwirkung bei – der symbolkräftige Name und die Arithmetik. Noch einmal 700 Flüchtlinge, beschloss die Regierung Anfang Oktober, sollten im Asylbewerberzentrum in einem bankrott gegangenen Freizeitpark des Dorfes mit 140 Einwohnern hoch oben im Norden untergebracht werden. Zusätzlich zu den 700, auf die man sich mit der Kommune geeinigt hatte. Es ist nicht so, dass die Menschen in Oranje grundsätzlich gegen Flüchtlinge wären. Dass sagen sie jedenfalls in die Mikrophone, am Tag nachdem sie die ersten zusätzlichen Busse blockierten. Eher haben sie genug von der »Den Haager Arroganz« – ein Vorwurf, den man dort oben häufiger hört. In diesem Fall hat Klaas Dijkhoff, der zuständige Staatssekretär im Justizministe­rium, eines der wichtigsten ungeschriebenen Gesetze missachtet: afspraak is afspraak (Vereinbarung ist Vereinbarung), das gehört zu diesem Land wie Buttermilch aus Gläsern und kalte Sandwiches zum Betriebslunch.
Viel schlimmer aber war dieses Bild, das bei Millionen Fernsehzuschauern hängenblieb: Einer seiner Mitarbeiter zerrt eine Bewohnerin Oranjes, die sich an besagtem Abend seinem Wagen in den Weg stellt, unsanft zur Seite. Die Frau stürzt und bricht sich den Arm. Ein Mann aus dem Dorf läuft dem Auto nach, tritt in die Seitentür und schreit Dijkhoff »klootzak« (Arschloch) hinterher. Als Mitglied der rechtsliberalen Partei VVD ist Dijkhoff eigentlich nicht zum Buhmann bei diesem Thema prädestiniert. Nachteilig wirkt allerdings ein modisches Accessoire: Er ist Mitte 30, ein Kind seiner Generation mit deren optischen Codes, und trägt den mit Abstand vollsten Bart des Kabinetts. Auf Internet-Foren hat man den längst zum »Hassbart« erkoren.
In Steenbergen, am Rande der Provinz Nordbrabant gelegen, scheint die Zeit der Argumente noch nicht ganz abgelaufen zu sein. Allerdings tauscht man sie, einen Tag nach der hitzigen Parlamentsdebatte, eher in erhöhter Lautstärke aus. Über 100 erbitterte Gegner eines Asylbewerberheims haben sich im Nieselregen an einem Nachmittag auf dem kleinen Marktplatz versammelt. 50 Gegendemonstranten stehen auf den Stufen der Kirche und halten bunte Regenschirme in die Höhe, als eine Gruppe schwarz gekleideter junger Männer mit einem Transparent auf sie zustürmt. »Grenzen dicht!« steht darauf. »Nehmt sie lekker in eurem eigenen Haus auf«, brüllen die Männer. Und mit spöttisch verzerrtem Gesicht setzt einer von ihnen nach: »Wir sind die neue Generation.«

Die Gegendemonstranten sehen aus wie Menschen, die schon vor 30 Jahren mit Jutebeutel im Bioladen einkaufen gingen und für Frieden demonstrierten. Sie stammen durchweg aus einer Zeit, in der Beschimpfungen kein Stilmittel der politischen Auseinandersetzung waren. Und inhaltlich? Die Lokalpolitikerin Wilma Baartman etwa erzählt, dass es auch in den achtziger Jahren ein Asylbewerberheim in Steenbergen gab: »Die Jugoslawen und Tamilen von dort lernten bei mir Niederländisch. Sie sind Freunde fürs Leben geworden.« Von hinter der Kette, die Polizisten mit ihren Mountainbikes gebildet haben, kommt ein Ei geflogen und zerschellt an der Kirchenwand.
Ein alter Mann mit feinen Gesichtszügen geht noch weiter zurück, um zu erklären, warum er hier steht. »Als Kind habe ich die Flutkatastrophe von 1953 erlebt«, sagt er. Vor allem hier, in den südwestlichen Landesteilen, ist dieses Trauma mit mehr als 1 800 Toten und 100 000 Obdachlosen bis heute präsent. Für Kees Bosters, 74, folgte danach eine Odyssee von anderthalb Jahren. Von einem Auffangort zum nächsten wurde seine Familie weitergeleitet. Einmal, im Frühjahr wenige Wochen nach der Flut, kamen sie dabei in einen Ferienpark. »Da protestierten die ­Erwachsenen, dass wir in ungeheizten Häuschen wohnen sollten. Genau wie jetzt die Flüchtlinge gegen die Bedingungen in manchen Unterkünften.« Fazit: »Ich finde, diese Menschen sind Flüchtlinge, die müssen aufgefangen werden. Was danach passiert, wird man dann sehen.«
Der Protagonist der Kundgebung ist nicht aufgetaucht. Schon als die ersten Flüchtlingsgegner Tranparente mit wütenden Parolen zwischen den kahlen Bäumen spannen, lässt Geert Wilders sich von einem Parteikollegen über Twitter entschuldigen. Der Grund: verschobene Abstimmungen in der Tweede Kamer, die er unlängst als »Scheinparlament« abtat, in dem außer seiner Partij voor de Vrijheid niemand den Bürgern zuhöre. Seit Wochen führt Wilders unter dem Motto »Grenzen dicht« eine Kampagne gegen die niederländische Flüchtlingspolitik. Offenbar triffft er damit einen Nerv. Immer größer wird sein Vorsprung in den Umfragen. »Pro 1 000 Flüchtlinge scheint die PVV einen Sitz zuzulegen«, schrieb unlängt ein Kolumnist der Zeitung Volkskrant. Inzwischen liegt sie bei mehr als 20 Prozent – astronomisch für niederländische Verhältnisse.
In den vergangenen Wochen taucht Geert Wilders gerne an Orten auf, an denen der Protest hohe Wellen schlägt. Die, wie er das ausdrückt, »in verzet komen«. »Widerstand leisten«, bedeutet das, oder »sich wehren«. Doch da schwingt mehr mit, denn verzet, das war auch die Widerstandsbewegung gegen die Nazi-Besetzung des Landes. Wilders sieht den Islam als essentielle Bedrohung Europas in der Nachfolge von Faschismus und Kommunismus. Die heutigen Asylbewerber werden von ihm nicht nur als Wirtschaftsflüchtlinge abgetan, sondern pauschal verdächtigt, potentielle IS-Infiltranten oder Agenten der Islamisierung zu sein.
Wie laut dieser Diskurs inzwischen widerhallt im Land, zeigen die Transparente auf dem Markt von Steenbergen. »Ein Asylbewerber mit voller Tasche greift sich Ihre Tochter mit Leichtigkeit«, steht da. Auf Niederländisch reimt sich das. Auch »Steenbergen wehrt sich« steht dort, oder »Refugees not welcome«. Wer sich umhört, stößt auf eine Mischung aus Sozialneid – die Flüchtlinge bekommen alles und wir kommen nicht über die Runden –, pauschalen Verurteilungen – sie sind gar nicht wirklich verfolgt – und der Unterstellung, in der Gegenwart von zumal muslimischen Asylbewerbern seien Kinder und Frauen nicht mehr sicher. Dass das Auffangzentrum neben einer Schule gebaut werden soll, löst Empörung aus. »Die Steenbergener werden es plattmachen, bevor es eröffnet ist«, sagt eine Frau.

Es gibt diese beklemmenden Momente, da scheint sich die Diskussion in rasantem Tempo zuzubewegen auf einen düsteren Höhepunkt, den Clash zwischen Identitaristen und Islamisten. Kurz vor der Kundgebung zum Beispiel, als drei aufgebrachte Flüchtlingsgegnerinnen in eine Cafeteria am Markt kommen, um sich mit landestypischen Speisen wie frikandel und kaassoufflé zu stärken. Eine von ihnen erzählt von einer Online-Fehde. »Stolz auf unseren Geert«, habe sie getwittert. Ein junger Muslim habe geantwortet: »Ihr Ferkel, passt mal auf, was in den Niederlanden passiert. Wir ficken euch alle.« Man kann sich vorstellen, wie die sanften Gegendemonstranten von Steenbergen in dieser Konstellation unter die Räder kommen.
Es ist so etwas wie ein Ritual geworden in diesem Herbst, dass die sonntägliche Politumfrage den jüngsten Zulauf der PVV bekanntgibt. Diesmal wartet sie mit einem Rekordwert auf. Ein Arbeitgeberverband ist deshalb bereits um das Image des Landes besorgt. In Steenbergen steht in diesen Tagen die Abstimmung über das Asylzentrum auf dem Programm. Daher will auch Geert Wilders seinen ausgefallenen Besuch bald nachholen. »Schnell ein Datum raussuchen«, kündigt er auf seinem Lieblingsmedium Twitter an. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« Und dann hängt er noch einmal an: »Leistet Widerstand«.

* Name von der Readaktion geändert.