In sozialen Medien wird die Messerattacke auf Henriette Reker gerechtfertigt

Verwirrte Volkshelden

In sozialen Medien und Verschwörungs­foren kursieren wilde Gerüchte über das Attentat auf Henriette Reker. Die Sehnsucht nach einem blutigen Aufstand feiert dabei fröhliche Urständ.

Das Attentat auf die parteilose Kölner Politikerin Henriette Reker war erst wenige Stunden her, als in einschlägigen Foren und Facebook-Gruppen schon wild spekuliert wurde, wer der Täter war. Am hartnäckigsten hielt sich das Gerücht, der Täter habe erst seit 15 Jahren einen deutschen Pass. Wo es zuerst aufgebracht wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Vermutlich handelte es sich um eine nicht eben logische Schlussfolgerung aus der Meldung, der Mann sei vor 15 Jahren nach Köln gezogen – verbreitet in der Absicht, Zweifel an der offiziellen Darstellung des Täters zu wecken.
Das hat Methode: In »Das Gelbe Forum«, einem Tummelplatz für Verschwörungstheoretiker (und ihre Gegner), war unter Verweis auf das Verschwörungsblog »Krisenfrei« verbreitet worden, Frank S. sei zwangsweise verpflichtet worden, in einem Asylbewerberheim die Toiletten zu putzen, und während dieser Arbeit von Flüchtlingen verhöhnt worden. Schließlich habe er die Demütigungen nicht mehr ertragen und sich an der Verursacherin seines Leids, nämlich an Henriette Reker, gerächt. Diese abstruse Geschichte passt gut zu den ausgedachten Horrormeldungen, mit denen schon seit Wochen Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht wird. In gefälschten amtlichen Schreiben und Zeitungsartikeln nachempfundenen Texten heißt es dann beispielsweise, demnächst müsse jeder Bundesbürger in seiner Wohnung Asylbewerber aufnehmen oder Hartz-IV-Empfänger müssten unentgeltlich für Flüchtlinge arbeiten. In Kommentaren unter diesen ­Fakes träumen die empörten Leser dann vom großen Volksaufstand, vom Bürgerkrieg und von an Laternen aufgehängten Politikern und Journalisten.

Beim Blog »Krisenfrei« ging man allerdings noch einen Schritt weiter. Nur wenige Zeilen, nachdem man das Motiv des Attentäters erklärt hatte, wurde das Attentat zur Bagatelle umgedeutet, denn auf Fernsehbildern sei klar zu erkennen, dass die schwere Verletzung von Reker lediglich mit einem »Pflästerchen« behandelt worden sei. Wieder einmal werde womöglich ein Fall, der »dem System dienlich werden könnte«, künstlich aufgebauscht, lautete die Schlussfolgerung. Im »Gelben Forum« gab es allerdings noch jede Menge anderer Ansichten über das Attentat. User »Sundevil« erklärte unter der Überschrift »Woran Ihr den kommenden Umsturz erkennen werdet – Frühindikatoren«, dass ein sicheres Indiz für den herbeigesehnten Bürgerkrieg das Auftauchen des Namens Breivik »in den Google-Resultaten« sei, welches anzeige, »dass die friedliche Stimmung umschlägt. Die Herren Minister« (Ministerinnen haben von den wütenden Volksmassen offenbar nichts zu befürchten) »sollten nicht Angst vor Galgenattrappen haben, sondern davor, dass man das Bild dieses Massenmörders hervorkramt und ihn zum Volkshelden deklariert.«
Überhaupt, der Volksaufstand. Seit Beginn der Pegida-Demonstrationen vor einem Jahr wird in zahllosen Internetkommentaren auf das große Ereignis hingefiebert. Dass der FC Bayern München zu seinen Heimspielen mehr Fans auf die Beine bringt als alle Gidas zusammen und pe­netrantes Lautsein auf Facebook nicht unbedingt ein verlässliches Zeichen dafür ist, die Mehrheitsmeinung zu vertreten, wird von den Empörte-Bürger-Darstellern dabei genauso ignoriert wie die Tatsache, dass die Justiz mittlerweile Online-Hass­ausbrüche sehr wohl verfolgt.

Halt, nein, natürlich heißt es nicht »die Justiz«, sondern »das System«, und selbstverständlich sind Anzeigen und Hausdurchsuchungen bei rechten Hetzern nicht etwa ein Zeichen dafür, dass die entsprechenden Delikte schon vor dem Anschlag auf Reker ernst genommen wurden, sondern »letzte Zuckungen« und »Ausdruck von Verzweiflung bei den Mächtigen«. Um den herbeigesehnten Aufstand endlich in Gang zu bringen, werden selbst Verkehrsschilder zum Zeichen dafür, was alles falsch laufe. In der Facebook-Gruppe »Heidenau hört zu« sorgte beispielsweise in der vergangenen Woche ein Foto eines »Vorsicht, Fußgänger«-Schildes für Empörung. Das war von der Stadtverwaltung an der Straße vor der Asylbewerberunterkunft des Ortes aufgestellt worden und sorgte, wie von den Organisatoren der Proteste gegen die Flüchtlinge zweifellos beabsichtigt, für eine regelrechte Hasswelle unter den Lesern. Man rechnete aus, was »die« »uns« damit schon wieder gekostet hatten, beklagte, dass für Weiße keine solchen Schilder aufgestellt würden, und machte dazu eine Menge mindestens geschmacklose Bemerkungen, in denen es beispielsweise um Worte wie Gasgeben und Versicherungsschutz bei Unfällen mit Tieren ging.
Den Vorwurf der rechten Hetze würde man gleichwohl sicher zurückweisen, denn man sagt ja »nur die Wahrheit« über »die Krimigranten«. Auf solche Wahrheiten sind mittlerweile auch diverse Polizeidirektionen aufmerksam geworden und veröffentlichen Warnungen, dass das Verbreiten von Falschmeldungen im Internet durchaus zu einer Anzeige führen könne. Besonders beliebt sind derzeit die, in denen es um Vergewaltigungen von Kindern und Frauen geht. Verbunden mit dem Hinweis, dass »die Politik« Anweisungen gegeben habe, dass »die Presse« die entsprechende Nachricht unterschlage, postet man Einzelheiten über ein angebliches Sexualdelikt, bei dem der Täter ein Asylbewerber gewesen sei. In aller Regel dauert es nicht lange, bis in den Kommentaren dazu aufgerufen wird, den Täter in Eigenregie zu finden und umzubringen. In Görlitz ging die Polizei kürzlich mit einem Statement an die Öffentlichkeit, in dem eine kursierende Falschmeldung über eine Vergewaltigung auf dem Gelände des örtlichen Klinikums als Hetze bezeichnet wurde. Auch in Heidenau kursierte kürzlich ein ähnliches Gerücht. Dort hieß es allerdings zusätzlich, dass der Polizei von »der Politik« weitere Ermittlungen verboten worden seien. Mittlerweile werden Meldungen sogar in rechten Foren nicht mehr einfach so geglaubt, selbst User mit einschlägigen Profilbildern verlangen nach Quellen, »weil wir uns sonst lächerlich machen«.

Mit dem Anschlag auf Reker haben Hetze und Fake-Nachrichten allerdings nichts zu tun – da ist man sich bei den »besorgten Bürgern« ganz sicher. Der Täter sei durch Merkel und Co. zu dem Anschlag gezwungen worden, so eine gängige Erklärung, da gegen den erklärten Willen der Mehrheit gehandelt werde. User »eddie09« fasste das im »Gelben Forum« so zusammen: »Dieser ›verwirrte‹ hat nicht irgendeinen Passanten verletzt, sondern eine Politikerin, die sich diesen Beruf selbst ausgesucht hat und an die Macht strebt. Sie wird nicht ehrenamtlich tätig sein, sondern am vollen Futtertrog sitzen wollen, sie wird nicht ergebnisorientiert arbeiten wollen, sondern das schmutzige Geschäft der Politik betreiben. Politik ist keine Arbeit.« Entsprechend habe die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) unrecht, wenn sie sage, dass dies »ein Angriff auf uns alle« gewesen sei: »Nein, das war ein Angriff auf die Politdrecksbande. Ich fühle mich nicht angegriffen.« Und ein »Dieter« schrieb: »Die Taten Stauffenbergs werden auch je nach politischem Zeitgeist anders gesehen.« So passt es, dass ein – mittlerweile gelöschter – Kommentar auf der Facebookseite von Henriette Reker nach dem Anschlag lautete: »Wer nicht hören will, muss fühlen«.