Das neue Asylbeschleunigungsgesetz begünstigt Stress und Gewalt in den Unterkünften

Völlig ausgeliefert

Immer wieder gibt es Berichte über Gewalt in Flüchtlingsunterkünften. Von rechts werden die Taten zur Hetze gegen Asylsuchende instrumentalisiert – und darum von Antirassisten und Flüchtlingsinitiativen ungern öffentlich diskutiert.

»Asylanten vergewaltigen Frauen und Kinder« – die Überschrift ziert zahlreiche Beiträge rechter Blogs. Darunter wird über einen Brief berichtet, den hessische Wohlfahrtsverbände und Frauenorganisationen an Abgeordnete des hessischen Landtags richteten, um auf die Situation in der Erstaufnahmeeinrichtung Gießen hinzuweisen. Die Unterbringung in Großzelten mit nicht nach Geschlechtern getrennten sanitären Einrichtungen spiele »denjenigen Männern in die Hände, die Frauen ohnehin eine untergeordnete Rolle zuweisen und allein reisende Frauen als ›Freiwild‹ behandeln«.
»Dass der Brief die rassistischen Hetzer freut, war vorauszusehen«, sagt Melanie B.*, die als Asylverfahrensberaterin mit einem Fall von mutmaßlich schweren sexuellen Missbrauch von einem Kind in einer Unterkunft befasst ist und die öffentliche Darstellung der Fälle kritisch sieht. Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Seitens ­jener, die die Gewalt in Flüchtlingsunterkünften bislang am meisten thematisieren, können die Betroffenen jedoch nicht auf Solidarität und Hilfe zählen – ganz im Gegenteil. Die Berichte von vergewaltigenden und prügelnden »Asylanten«, die auf rechten Websites kursieren, tragen, ob sie erfunden sind oder nicht, dazu bei, dass Flüchtlinge auch im bürgerlichen Milieu zunehmend als Bedrohung angesehen werden – und dass Flüchtlingsunterkünfte oft in Flammen aufgehen. 500 Angriffe auf geplante oder bereits bewohnte Flüchtlingsunterkünfte zählten die Sicherheitsbehörden in diesem Jahr.

Trotzdem ist es notwendig, öffentlich über den Umgang mit Gewalttaten in Flüchtlingsheimen zu sprechen. Das zeigt auch der Fall, den Melanie B.* behandelt: In einem Großzelt, in dem rund 100 Asylsuchende untergebracht sind, wird ein Kind missbraucht. Die Eltern wenden sich an einen Sozialarbeiter, der sich an die Polizei und die Leitung der Unterkunft wendet.Trotz der offensichtlichen Kindeswohlgefährdung wird das Kind mit seinen Eltern zunächst nur aus dem Zelt in einen anderen Raum innerhalb des Geländes verlegt – so dass das Opfer weiter fürchten muss, dem mutmaßlichen Täter über den Weg zu laufen. Der ist zwar bekannt – von der Polizei vernommen wird er aber nicht. Später kann er zunächst nicht mehr gefunden werden, wahrscheinlich, weil er in eine andere Unterkunft transferiert wurde und un­bekannt ist, in welche. Auch das Kind und seine Eltern werden zunächst ohne Rücksicht auf das erlittene Trauma in eine weitere Gemeinschaftsunterkunft geschickt. Erst nach Wochen erreichen es Unterstützer der Familie, dass sie in privaten Notunterkunft und später in einer Wohnung unterkommen kann.
Der Fall steht beispielhaft für viele Situationen, in denen Flüchtlinge, die Drohungen, Gewalt oder sexueller Belästigung ausgesetzt sind, keine schnelle und unbürokratische Hilfe erhalten. Auf dieses Problem verweist auch ein offener Brief des Internationalen Frauencafés Nürnberg (siehe Seite 5), der die bayerische Staatsregierung und die Stadt Nürnberg aufforderte, sich für den Schutz von Frauen und Kindern in Flüchtlingslagern einzusetzen. »Mehrere Frauen wurden von Mitbewohnern gemaßregelt und zu ›züchtigem‹ Verhalten (bspw. Kleidung/Kopftuch) aufgefordert«, heißt es dort. »Alleinstehende Frauen erzählten, dass sie unverholen von männlichen Bewohnern angemacht und zu Sex aufgefordert werden«. Im Gegensatz zur Veröffentlichung der hessischen Verbände taugte der offene Brief aus Nürnberg aber offenbar weniger zur Instrumentalisierung von rechts – vielleicht, weil es in Nürnberg gelang, die Betroffenen in einer Pressekonferenz selbst zu Wort kommen zu lassen, was pauschale Verunglimpfungen erschwert.
Immerhin berichten die hessischen Verbände wie auch das Internationale Frauencafé Nürnberg über Erfolge ihres Engagements. Die Stadt Nürnberg etwa zeige Bereitschaft, sich um separate Unterkünfte für Frauen und Kinder zu kümmern. Die hessischen Verbände teilen auf Nachfrage mit, dass es in einigen Unterkünften jetzt bereits getrennte Bereiche für Frauen gebe. Zudem habe die hessische Landesregierung unter anderem Schulungsinitiativen für Mitarbeiterinnen in Erstaufnahmeeinrichtungen in die Wege geleitet und strebe »die getrennte Unterbringung allein reisender Frauen und Kinder sowie die Einrichtung von Familienunterkünften in festen Häuser an«. Bislang wurden Flüchtlinge vielerorts im Gießkannenprinzip auf die Unterkünfte verteilt – ohne Geschlechtertrennung und Schutzmaßnahmen für besonders verletzliche Personen. Wie groß das Problem ist, illustrieren folgende Zahlen: Mindestens 42 000 Flüchtlinge sind laut einer Recherche der Welt in Deutschland derzeit in Zelten untergebracht, ein Drittel aller Flüchtlinge sind Frauen, über 30 Prozent aller Asylsuchenden sind Minderjährige.
Nicht nur Frauen und Kinder sind in den Unterkünften Gewalt ausgeliefert. Homosexuellen sei vernünftigerweise nicht zu raten, sich in den Unterkünften zu outen, sagt Rita Braaz, die in der Lesbenberatungsstelle Letra in München lesbische Asylsuchende berät. Auch über die Drangsalierung von Christen oder Säkularen gibt es mehrere Berichte, in Suhl etwa kam es zu Ausschreitungen, weil ein Bewohner Seiten aus einem Koran gerissen haben soll. In Kassel-Calden, in Hamburger Unterkünften und an anderen Standorten eskalierten Streitigkeiten zu Massenschlägereien zwischen Flüchtlingsgruppen.

In der öffentliche Debatte fallen die Erklärungen für die Gewalttaten meist reflexhaft aus: Linke und liberale Menschenrechtsaktivisten verweisen auf den sozialen Stress in den überfüllten Unterkünften – und blenden andere Faktoren aus. Für das Pegida-Umfeld bis weit in das bürgerliche Milieu hinein ist hingegen klar: Flüchtlinge trügen jene Zustände nach Deutschland, vor denen sie angeblich geflohen seien, so die Parole von Lutz Bachmann und anderen. Schuld sind dann »die Kultur« und »der Islam«, eben »die Flüchtlinge« selbst.
Monokausale Antworten sind bei sozialen Phänomenen meist falsch, aber auch eine pauschale Gewichtung der Faktoren lässt sich kaum seriös formulieren. Ein Experiment, das erprobt, wie sich 100 zufällig aus unterschiedlichsten Milieus und Ländern ausgewählte Europäer mit einem entsprechend hohen Anteil junger Männer verhalten, wenn man sie zwangsweise Bett an Bett in eine Messehalle verfrachtet, nachdem sie in seeuntüchtigen Booten über die Ägäis reisen mussten und anschließend auf einer strapaziösen Flucht durch Griechenland, Mazedonien und Ungarn Nahrungsmangel, kriminellen Banden, Polizeiprügel, Tränengas und Stacheldrahthindernissen ausgesetzt wurden, ginge wohl durch keine Ethikkommission, selbst wenn man es den Probanden ersparte, zuvor unter den Gefahren eines Bürgerkriegs zu leben.
»Die Sprachbarriere und der dadurch entstehende mangelnde Kontakt zwischen den Flüchtlingsgruppen führt dazu, dass in Streitfällen schnell Partei für die eigenen Landsleute ergriffen wird«, sagt ein Sozialarbeiter, der in einer Berliner Notunterkunft eingesetzt war. Daher eskalierten Konflikte schnell, auch wenn die Auslöser meist alltägliche Kleinigkeiten seien. »Ohne genügend Personal mit Übersicht, persönlicher Anteilnahme und guten Beziehungen zu den Bewohnern kann aus einer Mücke ganz schnell ein Elefant werden.« Florian Schumacher, der in mehreren kleineren Gemeinschaftsunterkünften auf dem Land in Baden-Württemberg arbeitet, meint, angesichts der Tatsache, dass verschiedenste Menschen ohne gemeinsame Sprache zwangsweise auf engem Raum zusammenleben müssten, laufe es »vielerorts erstaunlich gut«. Bei Streitigkeiten gehe es meist um typische WG- oder Nachbarschaftkonflikte: »90 Prozent der Probleme haben mit ethnischen, religiösen oder kulturellen Faktoren nichts zu tun.« Generell gelte: Kleinere Unterkünfte – kleinere Probleme.
Angesichts von Vorfällen wie in Suhl bleibt die Interpretation, es ginge immer nur um sozialen Stress, gleichwohl verkürzt. Aber aus dieser Diagnose lassen sich zumindest pragmatische Forderungen ableiten, die Gewalttaten und Drangsalierungen verhindern können und dafür sorgen, dass die Opfer den Tätern nicht schutzlos ausgeliefert werden. Interpretiert man die Taten vor ­allem als ideologisch motivierte Gewalt, wird es mit pragmatischen Lösungsansätzen schwierig. Unionspolitiker schlugen bereits vor, Flüchtlinge nach Religionszugehörigkeit zu sortieren. Da ein Großteil der Flüchtlinge hier noch des Öfteren mit Anders- oder Nichtgläubigen konfrontiert sein wird, wurde der Vorschlag als wenig sinnvoll kritisiert. Darauf folgten die bereits aus vergan­genen Integrationsdebatten erprobten Belehrungen über »unsere Werte« und »unsere Leitkultur«. »Das hat etwas sehr Patriarchales – nach dem Motto: Solange du deine Füße unter unserem Tisch hast, hast du meine Regeln zu befolgen«, kommentiert Rita Braaz von der Lesbenberatung Letra. »Wenn etwa CSU-Politiker, die sich EU-Richtlinien zur Antidiskriminierung von Homosexuellen nur zähneknirschend beugen, den ­Respekt gegenüber LGBT als Teil ›unserer Kultur‹ beschreiben, ist das ausgesprochen bigott.« Dazu kommt, dass die Wertedebatte Menschenrechte gern als »Kultur« oder »deutsche Werte« ausflaggt – und damit die Idee der Universalität der Menschenrechte im Grundsatz missachtet.

Wie sehr solche Missverständnisse die Debatte prägen, zeigt auch die Zeitschrift Emma. »Unsere Gleichberechtigung ist in Gefahr, wenn jetzt Hunderttausende meist junger Männer in unser Land strömen. Sie kommen aus frauenverachtenden Traditionen und (Bürger-)Kriegsländern und sind geprägt von Gewalt«, heißt es dort über einem Forderungskatalog, der neben vielen Forderungen, die auch Flüchtlingsorganisationen stellen, ganz am Schluss den Satz enthält: »Es stellt sich die Frage, ob solche Verstöße auch ein Grund für die Ablehnung des Asylgesuchs sein können.« Als würden die Menschenrechte und das an sie anknüpfende Asylrecht nicht komplizierterweise auch für jene Menschen gelten, die die Menschenrechte anderer missachten.
Die vorige Woche im »Asylbeschleunigungs­gesetz« beschlossenen Regelungen sehen vor, dass einem großen Teil der Flüchtlinge das aus der unverletzlichen Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete soziokulturelle Existenzminimum vorenthalten wird und Asylsuchende statt bislang maximal drei künftig bis zu sechs Monate in den überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben müssen, Flüchtlinge aus »sicheren Herkunftsstaaten« gar auf unbestimmte Zeit bis zu ihrer Abschiebung. »Fehl­anreize mindern« ist die offizielle Intention der Maßnahmen. Menschen den Begriff der Menschenwürde zu erklären, während man sie gängelt, um andere Flüchtlinge abzuschrecken, dürfte nicht unbedingt erfolgsversprechend sein.

* Name von der Redaktion geändert.