Humanismus im Staatsauftrag ist keine linke Politik

Willkommenheißer der Herzen

Eine linksradikale Praxis kann sich in der momentanen Situation nicht auf das Organisieren von Willkommensfesten beschränken. Die humanitäre Hilfe stärkt das deutsche Selbstbewusstsein und stellt den moralischen Überbau für die menschenverachtende Politik des europäischen Hegemons bereit.

Während sich auf der Straße, im Internet und in unzähligen Gemeindesälen die offen rassistischen Deutschen formieren, ist im Spätsommer dieses Jahres ein anderes Deutschland erwacht und hat innerhalb kürzester Zeit seine Liebe zu Geflüchteten entdeckt. Von Kanzlerin Angela Merkel über das Feuilleton bis in die deutschen Kleinstädte, in denen lauter Initiativen für die Unterstützung Geflüchteter entstehen, – alle sind sich einig: Refugees Welcome! Sogar die Bild-Zeitung entblödete sich nicht, scheinbar in völliger Amnesie bezüglich der eigenen rassistischen Berichterstattung der vergangenen Jahre, sich dem plakativ anzuschließen. Während vor einem Jahr noch Vertreterinnen und Vertreter von Pegida in die bundesdeutschen Bildungstalkshows eingeladen wurden, werden heute an selber Stelle Lobgesänge auf Kleiderspendensammler gesungen. Kein Tag vergeht, ohne dass Spiegel Online einen neuen Artikel veröffentlicht, mit dem entweder um Empathie geworben oder wenigstens aus leistungsorientierten Gründen ein gutes Wort für die Aufnahme von Geflüchteten eingelegt wird. Berührende Fluchtgeschichten reihen sich an Berichte über Geflüchtete, die wahlweise ganz schnell anfangen wollen, legal in Deutschland zu arbeiten und Steuern zu zahlen, mit Hilfe einer deutschen Oma einen Ausbildungsplatz gefunden haben oder sonst etwas Besonderes (und, das ist entlarvend: vermeintlich Unerwartetes) für Deutschland geleistet haben.

Folgerichtig zeigen die offen rassistischen Deutschen sich empört, plötzlich von ihrem Souverän im Stich gelassen zu werden. Die Politik steht nicht mehr geschlossen hinter ihnen, anders als sie es aus den neunziger Jahren in Erinnerung hatten. Keineswegs verschwunden und gerade wieder deutlich vernehmbar sind die Politiker und Politikerinnen, die versuchen, mit markigen Forderungen ihr Klientel zu halten: Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) schwafelte jüngst von der Notwendigkeit einer »Ankommenskultur« unter Geflüchteten und echauffierte sich über deren Proteste gegen die in den Unterkünften herrschenden Zustände. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) drohte mit Notwehr gegen den Bund, sollte der Verteilungsschlüssel nicht geändert werden, während sein Parteikollege Markus Söder eine Grundgesetzänderung forderte. Die altbewährte Arbeitsteilung bleibt bestehen. Seehofer spricht aus, was de Maizière nicht sagen kann, und Söder das, was Seehofer nicht sagen darf. Dennoch lassen sie sich gegenseitig sprechen, um den Rahmen des Sagbaren zu erweitern und gemeinsam dem Volksmob die helfende Hand zu reichen. Zu dieser altbekannten Gemengelage verhält sich die ›Willkommenskultur‹ wie die Lichterketten zur faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993, sie repräsentiert das »helle« Deutschland und legitimiert moralisch die rassistische Abschottungspolitik.

Die Eskalation deutscher Zustände und das wachsende internationale Interesse daran haben angesichts des nicht zu erwartenden Rückgangs der Geflüchtetenzahlen die bundespolitischen Akteure zum Handeln gezwungen. Was hätten sie nach jahrelangen Versuchen, das Problem auszusitzen, auch anderes tun sollen, als zu verkünden, man werde den Geflüchteten helfen und alle sollten sich daran beteiligen. Dieser Ruf wurde erhört und hat ein Milieu in rege Betriebsamkeit versetzt, das sich von den offen rassistischen Deutschen abgrenzen will. Mit einem Mal entdecken in allen Ecken und Städten Deutsche ihr Herz für Geflüchtete; helfen ist hip und es geht ganz leicht – Humanismus im Staatsauftrag. Die überbordende Hilfsbereitschaft gilt natürlich nur den guten syrischen Kriegsflüchtlingen, denen Angela Merkel die ungehinderte Einreise versprach und medienwirksam die Grenze öffnete. Für diese humanitäre Geste wurde sie in der Öffentlichkeit hochgelobt, obwohl diese sich nach wenigen Tagen schon in ihr Gegenteil verkehrte. Das Schengener Abkommen wurde außer Kraft gesetzt und Kontrollen an der Grenze zu Österreich wurden wieder eingeführt. Während die deutschen Medien den Willkommensweltmeister der Herzen inszenieren, wird mit dem Finger auf Osteuropa gezeigt. Ausschließlich dort säßen nämlich die herzenskalten Menschenfeinde, die keine Geflüchteten aufnehmen wollen und kilometerlange Stacheldrahtzäune bauen, um Menschen daran zu hindern, in den Genuss der europäischen Willkommenskultur zu gelangen. Nach Jahren der Finanzkrise und dem international kritisierten Würgegriff um Griechenland zum vermeintlichen Wohle der Weltwirtschaft kommt die ›Flüchtlingskrise‹ ganz recht. Endlich eine Krise, die wir lösen können, wenn nur alle mit anpacken und an einem Strang ziehen.
Zudem gehören wir endlich mal wieder zu den Guten. Als geläuterte Nation inmitten einer globalen Politik nationalstaatlicher Interessen selbstlos den moralischen Weg zu weisen, ist das Selbstverständnis der Berliner Republik. Da schmiegt sich der Duktus der Barmherzigkeit zuckersüß entlastend an die neue Führungsposition in Europa. Jenes helle Deutschland präsentiert sich vor der Welt und vor allem vor sich selbst, damit seine Bilder endlich diejenigen aus Lichtenhagen, Heidenau und Tröglitz überstrahlen. Das moralische Kapital, welches hier angehäuft wird, quillt den Deutschen bereits jetzt aus jeder Pore, wo tausende Geflüchtete noch nicht einmal in einer unwürdigen Halle untergebracht und mit dem Nötigsten versorgt sind. Dass die Krise eine mindestens sehenden Auges in Kauf genommene, wenn nicht gar absichtlich herbeigeführte gezielte Unterversorgung von Geflüchteten ist, flankiert von kalkulierter Krisenrhetorik, interessiert dabei nicht. Die Deutschen gefallen sich im Ausnahmezustand.

Solange die neue Staatsraison kräftig den nationalen Hilfstaumel ankurbelt, der ordentlich moralinsaure Selbstzufriedenheit abwirft, wird ganz praktisch an der alten, rassistischen Politik festgehalten. Eine weitere Verschärfung des Asylrechts wurde gerade beschlossen, inklusive Festlegung weiterer »sicherer Drittstaaten« und der Reduzierung der rechtlichen Ansprüche Asylsuchender. Zwei Tage später veranstalteten alle im Bundestag vertretenen Parteien und Teile der berüchtigten Zivilgesellschaft, von DGB über Pax Christi bis Attac, die »Große Lichterkette für Flüchtlinge durch Berlin«, eine Veranstaltung, die in Sachen Zynismus keinen Vergleich zu scheuen braucht.
Hinzu kommt die Bewilligung des Bundeswehreinsatzes gegen sogenannte Schlepperbanden im Mittelmeer. Die deutsche Marine wird jetzt auch ganz unmittelbar Flüchtende bekämpfen. Denn klar ist, bei aller Liebe, das Problem sind nach wie vor die Menschen, die nicht hier herkommen sollen. Die gesamte Selbstinszenierung Deutschlands beruht schließlich auf dem Konsens, dass denen, die schon hier sind, geholfen werden kann, aber gleichzeitig alles unternommen werden muss, um noch mehr Menschen am Kommen zu hindern. Sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge aus der Subsahara und Roma aus den ehemaligen Ostblockstaaten sind nach wie vor nicht willkommen und sollen mit allen Mitteln an der Einreise gehindert werden. Anständig selektiert und im Zweifelsfall schnell abgeschoben werden sollen sie, die unsere Willkommenskultur missbrauchen und sich die ehrliche Hilfe guter Deutscher erschleichen – zum Wohle der guten Kriegsflüchtlinge natürlich. Derweil sieht die Linke entgegen aller Vorzeichen die Festung Europa im Wanken, organisiert ein Willkommensfest in Heidenau und ruft sich gegenseitig dazu auf, endlich konkrete Unterstützungsarbeit zu leisten. Diese ist notwendig und alles, was die Lebenssituation derjenigen, die es bis nach Deutschland geschafft haben und hier der rassistischen Politik ausgeliefert sind, verbessert, ist zu begrüßen. Eine linksradikale Praxis ist das nicht. Dass man damit im nationalen Rausch mitschwimmt und noch die Bilder liefert, mit denen sich die Deutschen ihrer Wiedergutwerdung vergewissern, sollte zumindest zu denken geben. Stattdessen kann auch antirassistische Praxis der staatlichen Politik unversöhnlich gegenüberstehen, wie sich am Beispiel der Fluchthilfe zeigt, die sich von der Inszenierung der Willkommenskultur nicht vereinnahmen lässt.
Der Humanismus im Staatsauftrag kommt ungemein vielen Menschen zugute, für die jede Hilfe einen Unterschied macht. Er bleibt dennoch eine nationale Mobilmachung, die das deutsche Selbstbewusstsein stärkt und den moralischen Überbau für die menschenverachtende Politik des europäischen Hegemons bereitstellt. Linksradikale Politik, die davon nicht mehr zu unterscheiden ist, hat ein Problem. Sie lässt sich blenden vom neuen, guten Deutschland und packt bereitwillig mit an.