Das gute Verhältnis zum IS prägt die türkische Außenpolitik

Außenpolitik in der Sackgasse

Die türkische Außenpolitik scheint gescheitert. Die Haltung zum »Islamischen Staat«, der Krieg in Syrien und das Verhältnis zur Europäischen Union manövrieren die Türkei und ihren islamischen Antiimperialismus ins politische Abseits.

So etwas wie eine außenpolitische Katastrophe ereignete sich für die Regierung Ahmet Davuto­ğlu in der Nacht vom 11. auf den 12. Oktober. US-Flugzeuge warfen fast unmittelbar an der türkischen Grenze auf syrischem Boden 50 Tonnen Kriegsmaterial ab. Bestimmt war die Lieferung für die Allianz der demokratischen Kräfte, ein Militärbündnis, dem die sunnitisch-arabische »Armee der Revolutionäre«, eine assyrisch-christliche Gruppe und die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) angehören. Die YPG ist die bei weitem größte der drei Gruppen und hat am meisten Einfluss. Die türkische Regierung, die die YPG als terroristische Organisation betrachtet, war empört. Umgehend wurde der US-Botschafter in das türkische Außenministerium einbestellt. Dort gab er seinem russischen Kollegen die Klinke in die Hand, der aus dem gleichen Grund – Unterstützung der syrischen Kurden – einbestellt war. Nur eine gute Woche zuvor war er schon einmal vorgeladen worden, wegen Luftraumverletzungen an der syrisch-türkischen Grenze.

Die Vorgänge sind symptomatisch dafür, dass sich die Großmächte derzeit nicht um die Interessen der türkischen Syrien-Politik kümmern. Dabei gäbe es mehrere Gründe, die Türkei als Partner ernst zu nehmen: Das Nato-Land hat eine 800 Kilometer lange Grenze zu Syrien und ist mittlerweile auch offiziell Mitglied in der von den USA gegen den »Islamischen Staat« (IS) geschmiedeten Allianz. Circa einmal im Monat schießt ein türkisches Flugzeug sogar ein paar Bordraketen gegen den IS und die USA dürfen den Luftwaffenstützpunkt İncirlik benutzen.
Das Scheitern der türkischen Syrien-Politik hat verschiedene Gründe. Zunächst war es die Festlegung auf den Sturz des Präsidenten Bashar al-Assad. Die USA wollten den wichtigsten Verbündeten des Iran mit Rücksicht auf die Atomverhandlungen nicht stürzen, scheuten ein eigenes Engagement und hatten wachsende Sorgen wegen des zunehmenden Einflusses von al-Qaida. Russland sah Assad ohnehin als Verbündeten.
Wirklich deutlich wurde der Gegensatz erst mit dem Auftreten des IS. Aus Sicht von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Davutoğlu vertrat der IS im Irak die sunnitischen Araber, die man bereits früher gegen den schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki unterstützt hatte. In Syrien war der IS geradezu ein Gegenstück zum Assad-Regime mit seinen säkularen Zügen und seiner Verankerung unter den schiitischen Alewiten geworden. Vor allem aber bekämpfte der IS die Kurden. Dass der IS das türkische Konsulat in Mossul besetzte und Geiseln nahm, hat man in Ankara seltsam gelassen aufgenommen. Im Gegensatz zu der Unterstützung anderer Oppositionsgruppen in Syrien, bei der es eine Zusammenarbeit mit den USA, Saudi-Arabien und Katar gab, isolierte sich die Türkei mit ihrer Haltung zum IS. Als die USA im saudi-arabischen Jeddah die Repräsentanten von 40 Staaten versammelten, um eine Allianz gegen den IS zu bilden, fehlte am Ende nur eine Unterschrift, die der Türkei.

Missachtet haben Erdoğan und sein als Syrien-Experte bekannter früherer Außenminister und heutiger Ministerpräsident Davutoğlu, dass ausgerechnet das Auftreten des IS dazu beitrug, Assads Position politisch und zumindest zeitweise militärisch zu stärken, denn der IS bekämpfte mehr die übrige Opposition als das Regime. Ebenso ging es der kurdischen YPG-Miliz, die politischen Aufwind bekam, gerade weil sie vom IS bekämpft wurde. Dagegen versuchte Erdoğan der Welt weiter seine Meinung aufzudrängen, wonach der IS, nun ja, vielleicht auch terroristisch sei, die eigentlichen Terroristen aber in der kurdischen YPG zu finden seien. Die Verdammung der YPG war umso weniger nachvollziehbar, als Ankara bis zum Juni noch offiziell in einem Friedensprozess mit der PKK war. Die Position der türkischen Regierung war nicht nur völlig unglaubwürdig, sie stand auch den Interessen aller anderen Beteiligten entgegen.
Ein kurzfristiger Wandel trat ein, als die Türkei im Juli den USA endlich den Luftwaffenstützpunkt İncirlik öffnete und selbst gegen den IS vorgehen wollte. Doch die türkische Luftwaffe bombardierte fast ausschließlich die Kurden. Die Haltung der Türkei zum IS hat aber nicht nur mit ihrer Kurdenpolitik zu tun, sondern muss auch im Zusammenhang der von Ahmet Davutoğlu entwickelten neuen Außenpolitik der Türkei gesehen werden. Demnach soll die außenpolitische Bedeutung der Türkei darauf beruhen, dass sie nach Westen und nach Osten gute Beziehungen unterhält, mit Nachbarn sollte es grundsätzlich »null Probleme« geben. Die Türkei soll Vermittler sein und zugleich Vorbild für eine im Westen integrierte muslimische Gesellschaft.
Das entsprach der nicht nur in der Türkei verbreiteten Vorstellung, es ginge um einen Gegensatz von Kulturen, der einseitig von westlichem Imperialismus verschärft werde. Das Konzept erlaubte es der Türkei, einerseits alle Vorteile der Verankerung im Westen zu genießen, andererseits gerade zu den radikalsten Feinden des Westens und Israels optimale Beziehungen zu pflegen. Gute Beziehungen zum IS sind daher eine logische Folge der türkischen Außenpolitik und zeigen zugleich deren konzeptionelle Schwäche. Der Westen braucht hier keinen Vermittler, sondern einen Verbündeten. Der IS ist nicht nur ein Problem für den Westen, sondern unmittelbar noch mehr für die Staaten und Gesellschaften der Region. Doch sowohl Erdoğan als auch Davutoğlu haben ihren islamistisch gefärbten Antiimperialismus so sehr verinnerlicht, dass sie die Gefahren unterschätzen, die vom IS ausgehen.

Es fällt schwer, ein Land außerhalb der EU zu nennen, mit dem die Türkei in letzter Zeit nicht massive Probleme hatte. Von Washington über Moskau, Teheran, Bagdad, Riad und Kairo gibt es Konflikte und in Damaskus sitzt noch immer der von Erdoğans Freund (»mein Bruder Assad«) zum Erzfeind mutierte syrische Präsident.
Einzig zu Berlin, wo mit Angela Merkel eine Politikerin sitzt, die sagt, dass sie die Türkei nicht als Vollmitglied in der EU will, werden plötzlich Beziehungen etabliert. Von der Angst vor der eigenen Courage getrieben, fuhren erst Außenminister Frank-Walter Steinmeier und dann Merkel selbst in die Türkei, um bei einer Regierung, die ohne Mehrheit im Parlament nur provisorisch im Amt ist, zu bitten, dass die Türkei die Flüchtlinge abwehrt, die Deutschland nicht haben will. Die für den 14. Oktober geplante Veröffentlichung des Fortschrittsberichtes der EU wurde vorsorglich verschoben; er könnte Feststellungen enthalten, die Erdoğan verstimmen.
Viel ist damit aus türkischer Sicht nicht gewonnen. Der türkische Kolumnist Cengiz Çandar nennt Merkels Visite bei Erdoğan unter Anspielung auf die Höhe der türkischen Geldwünsche eine »Drei-Milliarden-Operette«. Visafreiheit und Fortschritte bei der Vollmitgliedschaft kann jedoch auch Merkel nicht einfach durchsetzen. Erdoğan selbst hat dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gegenüber erklärt, er wolle lieber unter die »Shanghai 5« als in die EU. Doch dass sich die Türkei als Anwalt der Turkvölker Zentralasiens versteht, missfällt sowohl Russland als auch China. Was für die Türkei also nun anstehe, spottet Cengiz Çandar, sei eine Anstellung als »Grenzwärter der EU« mit einem Salär von drei Milliarden Euro. Er bezweifelt jedoch die Fähigkeiten der Türkei dazu. Nur sei Merkel so in Panik, dass sie keine Zeit habe, über die Eignung des Kandidaten nachzudenken. Von einer »Belebung« der Beziehungen zu Europa könne nicht die Rede sein, sondern eher von »Beziehungslosigkeit«. Die Vermittlerrolle der Türkei ist gescheitert.