Die Situation bei der Registrierung von Flüchtlingen in Berlin

Chaos und Unterversorgung

Seit Monaten ist der Vorplatz des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales ein Schauplatz der ehrenamtlichen Hilfe für Geflüchtete. Gleichzeitig war das Gelände in der Berliner Turmstrasse auch immer wieder Schauplatz von Szenen der Gewalt, Überforderung und Fehlplanung. Seit Mitte Oktober gibt es eine neue Registrierungsstelle an der Bundesallee in Berlin-Wilmersdorf. Erleichterung bringt sie jedoch nicht.

»Die Lage vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) beginnt sich zu entspannen«, titelte Ende voriger Woche die Berliner Morgenpost. Die Bild-Zeitung setzte noch einen drauf: »Alles besser am LaGeSo – Vom Schandfleck zum SoGehtEs!« Nur noch rund 200 Asylbewerber würden auf dem Gelände auf ihre Registrierung oder auf das Abholen von Geld warten, bestätigte ein Sprecher des Senats gegenüber der Tageszeitung. Vor allem die Registrierung neu ankommender Flüchtlinge in der Bundesallee hätte die Situation deutlich verbessert. Doch die Realität ist eine andere.
Im Kleinen Tiergarten trocknen noch am Mittag die Schlafsäcke jener Menschen, die die Nacht zuvor hier verbracht haben. In kleinen Gruppen sitzen sie in den Grünanlagen oder ­direkt auf dem Fußgängerweg in der Turmstraße und schlagen die Zeit tot. Die meisten von ­ihnen aber stehen vor einem Zaun. Dahinter werden die neu ankommenden Flüchtlinge in die Zelte vorgelassen. Eine Registrierung findet hier nicht statt. Laut offiziellem Protokoll geht es von hier aus weiter in die neue Registrierungsstelle in der Bundesallee. Die Polizei sichert den Fußgängerweg ab, hinter den Zäunen stehen die bulligen Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes. Allein hier warten weit über 100 Personen darauf wie es weiter geht. Die Strapazen und die Ungewissheit steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Täglich sollen es zwischen 300 und 800 neu ankommende Flüchtlinge sein. Viele von ihnen schlafen nach Angaben der Nichtregierungsorganisation »Moabit hilft« auf dem Bürgersteig der Turmstraße oder im nahegelegenen Park. Frühmorgens stürmten sie dann los, um schnellstmöglich im wärmenden Vorregistrierungszelt unterzukommen. Tumulte blieben dabei nicht aus.

Einige Meter die Turmstraße in Richtung Amtsgericht weiter ist der Eingang zum Landesamt für Gesundheit und Soziales. Unentwegt strömen Menschen auf das Gelände. Neben Familien mit kleinen Kindern sind es vor allem junge Männer. Rund 1 000 bis 2 000 Flüchtlinge sind es täglich, bestätigt die freiwillige Helferin Anja*. Davon sind etwa ein Viertel Kinder und Jugendliche. Jeden Tag aufs Neue müssen sie zum Landesamt aufbrechen, weil ihnen nicht bekannt ist, wann ­genau ihre Wartenummer aufgerufen wird. Mal dauert es nur einige Tage, dann wieder mehrere Wochen, manchmal sogar länger als einen Monat. Dabei wollen sich die Wartenden nur registrieren lassen und eine Unterkunft zugewiesen bekommen.
Ob im Regen oder bei Sonnenschein, die Flüchtlinge verbringen ihre Zeit auf dem Gelände, immer in der Hoffnung, dies werde der letzte Tag des Wartens sein. Sie gehören zu jenen 5 000 Personen, deren sogenannte Altfälle derzeit in der Turm­straße abgearbeitet werden. Sie können nur hier eine medizinische Grundversorgung erhalten. Laut Gesetz haben aber nur registrierte Asylbewerber Anspruch darauf. Deshalb stellten in den vergangenen drei Monaten Freiwillige eine kleine medizinische Notversorgung auf die Beine. Unterstützung bekamen sie dabei allein von einer hauptamtlichen Caritas-Mitarbeiterin.
Vor knapp zwei Wochen kritisierte der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, in der RBB-Abendschau die Zustände auf dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales als »weder gesund noch sozial«. Die Zusammenarbeit zwischen freiwilligen Helfern und den Offiziellen vom Amt sei weit mehr als nur mangelhaft. »Das, was wir konkret vom Lageso erleben, grenzt mehr an Sabotage als an tatsäch­liche Unterstützung«, beklagte sich der Präsident in der Nachrichtensendung. Vor allem die lange Wartezeit verschlechtere sehr die gesundheitliche Lage der Flüchtlinge. »Was nützt es uns als Ärzten, wenn wir die Krankheiten dann behandeln müssen«, so Jonitz, »die erst durch diese inhumane Warterei bei Wind und Wetter entstanden sind?«

Neben der Verkürzung der Wartezeit sei eine Verstetigung sowie Professionalisierung der ärztlichen Versorgung dringend notwendig. Die zumeist freiwilligen Helfer können dies auf Dauer allein nicht leisten. Der Senat müsse endlich Gelder dafür bewilligen, dass die Caritas als Betreiber in die Lage versetzt wird, Ärzte und Krankenpfleger einzustellen. Der Präsident des Lageso, Franz Allert, wies die Vorwürfe einen Tag später zurück. Aus seiner Sicht sei hier »der Maßstab ein bisschen verrutscht«, da es sich bei Landesamt um eine Aufsichtsbehörde handele. Als solche müsse sie sich schließlich an geltende Gesetze halten. Dies dann als »Sabotage« zu bezeichnen, sei nicht im Sinne einer zielführenden Kooperation. Seine Mitarbeiter, so Allert, seien schließlich ebenfalls betroffen von der Situation der Flüchtlinge. »Sie sehen natürlich die Bilder und die Berichterstattung nicht besonders gerne. Es sind Zustände, wie wir sie uns nicht wünschen. Aber sie werden Schritt für Schritt verbessert.« Das Haupthindernis dabei, die Missstände endlich zu überwinden, sei nach wie vor, dass es an Personal mangele: »Aber das können wir auch einstellen. Und deswegen bin ich eigentlich zuversichtlich, dass sich auch alles zum Besseren wendet.«
Nach der harschen, vor allem aber öffentlichkeitswirksamen Kritik von Ärztekammer-Präsident Jonitz stellte der Berliner Senat schnell eine Verbesserung der seit Monaten andauernden Notsituation in Aussicht. »Es wird vertraglich geregelt, dass Ärzte der Charité hauptamtlich die vor dem Lageso wartenden Flüchtlinge medizinisch versorgen«, bestätigte am Mittwoch vergangener Woche die Sprecherin der Sozialverwaltung, Regina Kneiding. Außerdem soll umgehend vertraglich geregelt werden, dass Ärzte der Charité auch diejenigen betreuen können, die dort oft tagelang auf ihre Registrierung warten. Dafür habe sich der Sozialsenator Mario Czaja (CDU) aber erst eine Genehmigung vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) holen müssen.

Für den geflüchteten Iraker, der jetzt gerade einen Rollstuhl braucht, ist das keine Hilfe. Zehra Can, eine Mitarbeiterin der Caritas, sucht nach den fünf an diesem Tag angelieferten Rollstühlen. Sie hat alle Hände voll zu tun. Das Handy klingelt ständig, sie wird permanent angesprochen. Es sind oftmals die einfachsten Dinge. Häufig geht es aber um ganz spezielle Fälle, allen ist eines gemein: Die Wartenden haben Fragen, brauchen Hilfe. Nicht immer gibt es gleich darauf eine passende Antwort oder die perfekte Lösung. So wie für die gerade dringende Frage, wo die Rollstühle abgeblieben sind. Aber das Engagement ist groß. Ein Helfer spricht sogar von freiwilliger Akkordarbeit.
Hischam*, ein breit gebauter Endzwanziger, engagiert sich nach seiner Zwölf-Stunden-Schicht noch bei der Initiative »Moabit hilft«. Für ihn sei es nichts Besonderes, Menschen in Not unter die Arme zu greifen. So geht es den meisten Unterstützern. Viele wohnen nicht weit entfernt und wollen »ganz konkret« helfen. So wie Jason, der gerade aus Neuseeland nach Berlin gezogen ist, um sein Deutsch zu verbessern. Anstatt zu Hause vor dem Fernseher zu hocken, will er lieber hier seine Zeit verbringen. Das sei weitaus sinnvoller. Die Stammhelfer kennen sich schon seit den Anfangstagen. Herbert, der nun seit drei Monaten auf dem Gelände des Lageso tätig ist, dachte anfangs, es gehe nur um eine Starthilfe durch die Zivilgesellschaft, vielleicht für drei oder vier Tage. Jetzt ist er im Dauereinsatz, koordiniert, steht für Fragen der Helfer zur Verfügung und unterhält sich mit den Neuankömmlingen. Zumeist mit Händen und Füßen.
Nicht wenige der Freiwilligen sind selbst Flüchtlinge, die schon registriert wurden. Anstatt ohne Zeitvertreib in ihren Unterkünften dahinzuvegetieren, können sie hier auf dem Gelände mit ihren Erfahrungen helfen. Gleichzeitig lenkt sie die Beschäftigung ab, vom eigenen Schicksal oder dem der Verwandten. Die größte Angst der neu ankommenden Flüchtlinge ist die vor einer Abschiebung. Vor allem, wenn es mal wieder mit einem Busshuttle ins Ungewisse geht. Menschen, die ihre Flucht zumeist selbst organisiert hatten, Grenzen ohne Genehmigungen überwinden mussten und in ihren Herkunftsländern das Vertrauen in staatliche Behörden vollends verloren hatten, empfinden eine große Unsicherheit gegenüber den uniformierten Sicherheitskräften. Egal, ob es sich dabei um Polizisten oder Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes handelt. Missverständnisse können dann schnell zu einer Eskalation führen – weshalb die Anwesenheit schon registrierter Asylbewerber eine beruhigende Wirkung auf alle Beteiligten hat.
Wie viele der Helfer achtet auch Zehra Can sehr darauf, dass nach außen nicht der Eindruck entsteht, es herrsche hier Chaos. Die Ängste der besorgten Berliner Bürger sollen nicht noch weiter befeuert werden. Dabei waren es die unzähligen Helfer, die das Chaos über Monate verhindert hatten. Tagein, tagaus sorgten sie dafür, dass eine Grundversorgung für die wartenden Flüchtlinge wenigstens halbwegs gewährleistet war. Der Bezirksbürgermeister von Mitte, Christian Hanke (SPD), wollte schon im August, dass wegen der Krisensituation der Katastrophenfall ausgerufen wird. Doch das Landesamt für Gesundheit und Soziales sah bisher nicht die Notwendigkeit, den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) dazu aufzufordern. »Eine Menge Flüchtlinge sind nicht das Gleiche wie eine Epidemie oder eine Verseuchung des Trinkwassers«, zitierte der Berliner Tagesspiegel Mitte Oktober Silvia Kostner, die Sprecherin des Lageso. Im Fall der Ausrufung des Katastrophenfalls könnte der Berliner Senat im Rahmen der Amtshilfe zusätzliche Kräfte des Bundes, der Länder oder der Kreise sowie Mitarbeiter nichtstaatlicher Hilfsorganisationen und des Technischen Hilfswerks (THW) anfordern. Für diese Hilfeleistung müsste der Senat dann aber bezahlen. Die freiwilligen Helfer arbeiten dagegen unentgeltlich. Einige der Unterstützer äußern immer wieder den Verdacht, dass die unhaltbaren Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland beabsichtigt sind. Ein derartiges Versagen des Staates über Monate hinweg erscheint ihnen äußerst suspekt. Nach ihrer Meinung sollen durch die mangelhafte Versorgung weitere Flüchtling davon abgeschreckt werden, nach Deutschland zu kommen. Eine zynische Strategie, die nach ihrer Erfahrung der vergangenen drei Monate keinesfalls aufgeht.

Neben der Bundesregierung und dem Berliner Senat werden die Medien kritisiert. Nicht wenige der Unterstützer sind Reportern gegenüber misstrauisch. Während der eine oder andere einfach nicht fotografiert werden will, fragen andere nach, ob man für die »Springerpresse« arbeite. Das ist nicht weiter verwunderlich. Anja* berichtet, dass Anfang Oktober ein Kamerateam der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) auf dem Gelände gefilmt hat. Nachdem sie erkannt und des Geländes verwiesen wurden, schnauzten die Moderatorin Emma Stabel und der Kameramann Jörg Hähnel die Helfer an. In dem knapp sechsminütigen Beitrag kommen zwei Flüchtlinge zu Wort, die ihrem Wunsch Ausdruck verleihen, dass recht bald ihre Familien nachziehen können. Perfide wird versucht, das Bild des auf Staatskosten lebenden Migranten zu zeichnen, weshalb auch die Frage nicht fehlen darf, wer denn die Reisekosten zahlen solle.
Selbstverständlich drücken die beiden Familienväter ihre Hoffnung aus, dass – möglicherweise – der deutsche Staat ihnen dabei finanziell helfen könnte. Was zu den erhofften Reaktionen in den sozialen Netzwerken führte. »Hier wird mit Geldern um sich geworfen, die erstens dem deutschen Steuerzahler gehören und zweitens für diese Fachkräfte weggeschmissenes Geld sind«, kommentierte Roland Lippman aus dem sächsischen Radebeul den Beitrag. Sein Fazit: »Diese Menschen werden und wollen sich nie integrieren!« Silke Hansen war dagegen um die Sicherheit der blonden Moderatorin besorgt und hoffte, dass sie »gute und starke Männer« an ihrer Seite habe, die sie »beschützen«. Und jemand, der sich Kernie Road nennt, schrieb, ganz der fürsorgliche Mann: »Pass auf dich auf, erst recht auf die Bimbos«.
Angst um die eigene Sicherheit ist eines der angeblichen Hauptmotive der autochthonen ­Xenophoben. Dass stattdessen die Flüchtlinge vor Hunger, Krieg und Not selbst in Deutschland noch Angst haben, ist für die Gartenzwergbesitzer schwer vorstellbar. Anja*, die Flüchtlingshelferin, erzählt von Schicksalen, die für einen Mitteleuropäer unvorstellbar sind. So zum Beispiel von der Mutter einer Familie, die ein Kind auf dem Weg über das Mittelmeer verlor. Die Frau war derart paralysiert, dass sie überhaupt nichts mehr um sich herum wahrnahm. Letztlich ging die Familie zurück in ihr Herkunftsland. Andere bangen um ihre Familien oder Freunde, die sie zurückgelassen oder von denen sie sich auf dem Weg nach Europa getrennt haben. Und natürlich wird die Angst vor einer möglichen Abschiebung frühestens nach der Registrierung etwas ge­mildert.
Doch die mangelnde Sicherheit auf dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales bedeutet eine weitere Gefahr. Vor vier Wochen verschwand der vierjährige Mohamed Januzi, ein Flüchtlingsjunge aus Bosnien-Herzegowina, spurlos. Videokameras am Haupteingang des Landeamtes zeichneten auf, wie er an der Hand eines fremden Mannes zum Ausgang an der Turmstraße läuft. In der linken Hand hielt der Mann einen Teddy. »Das ist hier kein Einzelfall, wenn Kinder ihre Eltern suchen oder Eltern ihre Kinder, das kommt schon öfter vor«, erklärte Diana Henniges, die Sprecherin der freiwilligen Hilfsorganisation »Moabit hilft«, der Berliner Zeitung. Grund dafür seien die chaotischen Zustände während des langen Wartens. Überall auf dem Gelände hängen die Fahndungsplakate in unterschiedlichen Sprachen mit dem Bild des kleinen Jungen aus. Die Polizei durchsuchte weiträumig die nähere Umgebung, sogar der Westhafen wurde komplett abgesucht. Von Mohamed fehlt bisher jede Spur.

* Name von der Redaktion geändert.