Proteste bei Air France

Das letzte Hemd geben

Die neuen Sparpläne des Air-France-KLM-Konzerns haben den Personalchef des Unternehmens buchstäblich das Hemd gekostet, als wütende Angestellte ihn zur Rede stellen wollten. Weitere Proteste folgten, derweil die französische Regierung Fluggesellschaften aus den Golfstaaten hofiert.

Obwohl die amtierende Regierung des sozialdemokratischen Staatspräsidenten François Hollande Monat für Monat Rekordwerte an Unpopularität einfährt, wollte sich bislang kein übergreifender gesellschaftlicher Protest gegen ihre Politik entzünden. Manche Kritiker sehen Hollande immer noch als »kleineres Übel« an und auch frühere Niederlagen wie beim Massenstreik gegen die inzwischen vor-vorletzte »Rentenreform« im Sommer und Herbst 2010 wirken nach.
Mit dieser relativen Ruhe war es in den vergangenen Wochen schlagartig vorbei. Am 13. Oktober weigerten sich zwei Arbeiter einer Riesenwerft im westfranzösischen Saint-Nazaire, die zugleich CGT-Gewerkschafter sind, Staatspräsident Hollande die Hand zu schütteln. Zur selben Zeit wurde sein Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der bereits mit 36 Jahren als Geschäftsbanker zum Millionär wurde, in Lyon und in Figeac mit Buhrufen bedacht. Am Dienstag voriger Woche wurde wiederum Hollande in der Pariser Vorstadt La Cour­neuve von einem »Empfangskomitee« relativ unfreundlich begrüßt und ausgepfiffen. Zwei Tage darauf musste sich dann sein Premierminister Manuel Valls in Paris Pfiffe von streikenden Anwälten und Anwältinnen anhören. Die Rechtsanwälte wehren sich gegen eine Reform der Aide juridictionnelle, einer finanziellen Rechtsbeihilfe für Geringverdienende, die es im Falle ihrer Durchsetzung noch unattraktiver machen würde, arme Menschen überhaupt vor Gericht zu vertreten. Die Bereitschaftspolizei CRS griff unsanft ein.

Begonnen hatte dieser Herbst der Unzufriedenheit jedoch mit dem militanten Protest von Lohnabhängigen bei Air France am 5. Oktober. An jenem Tag sollte eine Sitzung des Gesamtbetriebsrats im Pariser Flughafen Roissy-Charles de Gaulle stattfinden, bei der knapp 3 000 Entlassungen verkündet werden sollten. Am Vormittag standen bereits rund 3 000 wütende Lohnabhängige vor der Tür. Die Direktion des Unternehmens hatte erwartete, dass es an diesem Tag etwa hitziger zugehen könnte. Deswegen hatte sie einen Sitzungssaal ausgewählt, den sie üblicherweise nicht benutzt, der aber einen kleinen Hinterausgang aufweist. Auffälligerweise platzierte die Leitung sich vor Beginn der Sitzung unmittelbar in der Nähe dieses Notausgangs.
Der Vorstandschef des Konzerns Air France-KLM – der 2004 aus der Fusion von Air France und dem niederländischen Unternehmen KLM hervorging –, Alexandre de Juniac, zog es vor, der Sitzung gleich fernzubleiben. Sonst ist er etwas mutiger. Im März dieses Jahres etwa fragte er in einem Interview, ob das Verbot der Kinderarbeit heute noch sinnvoll sei und ob es wirklich eines Rentenalters oder einer Arbeitszeitbegrenzung bedürfe: »Die Arbeitszeitbegrenzung, die, so scheint es, eine soziale Errungenschaft bildet – was bedeutet das für einen Ingenieur, der ein Tablet und ein Smartphone bei sich zu Hause hat und daheim arbeitet?« Geradezu ins Schwärmen kam de Juniac, als er ein Gespräch mit einem Kollegen von der Konkurrenz wiedergab: »Wie mein Amtskollege von Qatar Airways gestern bezüglich des Streiks« – gemeint war der Pilotenstreik bei Air France vom September 2014 – »sagte: Monsieur de Juniac, bei uns wäre das nicht möglich, wir hätten sie alle ins Gefängnis gesteckt.«
Der de Juniac untergebene Unternehmenschef von Air France, Frédéric Gagey, musste dagegen an der Sitzung teilnehmen. Doch nach dem Eindringen von protestierenden Lohnabhängigen durch den Haupteingang suchte er sofort das Weite und entfloh durch die besagte Hintertür. Auch Vorstandsmitglied Pierre Plissonnier flüchtete und kletterte über einen Zaun. Deshalb war es am Personalchef des Unternehmens, Xavier Broseta, die Sache auszubaden und die lieben Mitarbeiter anzuhören. Broseta umgab sich daraufhin mit Wachleuten und versuchte seinerseits, sich jeglicher Diskussion zu entziehen und so schnell wie möglich den Ort zu verlassen. Dies wiederum kam nicht sonderlich gut an und sollte insbesondere Brosetas Hemd nicht gut bekommen. Dieses wurde gehörig zerrupft, als diskussionswillige Mitarbeiter den Personalchef im Raum zu halten, Wachleute ihn jedoch hinauszuziehen versuchten. Die Bilder von Broseta, der mit zerrissenem Hemd über die Umzäunung flieht, gingen um die Welt.
Eine Woche später wurden im Morgengrauen sechs Mitarbeiter festgenommen, elf weitere wurden später zu Polizeidienststellen vorgeladen. Anfang Dezember soll ihnen in der Pariser Vorstadt Bobigny der Prozess gemacht werden. Für die Angeklagten findet nun eine breite Solidaritätskampagne statt. Petitionen kursieren, und im Rahmen einer Aktion »Ich gebe mein letztes Hemd für die Solidarität« fanden an einem Samstag Mitte Oktober Kundgebungen in 28 französischen Bezirkshauptstadtstädten statt. Dabei wurden alte Hemden vor den Präfekturen, den Vertretungen des französischen Zentralstaats in den Départements, abgeladen.
Tausende demonstrierten am Donnerstagmittag vergangener Woche vor der französischen Nationalversammlung, während zugleich andernorts in Paris eine neue Verhandlungsrunde zwischen den Gewerkschaften und der Direktion von Air France eröffnet wurde. Zuvor hatte die Unternehmensleitung jedoch angekündigt, sich nicht davon abbringen zu lassen, an die 1 000 Entlassungen im kommenden Jahr durchzusetzen. Der Rest der geplanten insgesamt 2 900 Stellenstreichungen soll dann im Jahr 2017 erfolgen. Es sei denn, die Gewerkschaften stimmen einem Sparplan zu, der dafür sorgen soll, dass das Personal »um 20 Prozent produktiver wird«. Das bedeutet längere Flugzeiten, kürzere Aufenthaltszeiten bei Auslandsübernachtungen und weniger Ruhetage im Monat.

Air France ist unter anderem deswegen angeschlagen, weil der französische Staat manche Billiglinien bevorzugt – etwa, um die Nutzung des neuerrichteten Pariser Flughafens Beauvais, 50 Kilometer nördlich von Paris und der dritte der Hauptstadt, attraktiv zu machen. Vergangene Woche wurde Beauvais von der englischsprachigen Website »The Guide to Sleeping at Airports« zum »neuntschlimmsten Flughafen des Planeten« gekürzt, kurz hinter denen von Kabul und Taschkent.
Es wird aber auch noch andere Konkurrenz aufgebaut, in Gestalt der Luftfahrtgesellschaften mehrerer Golfstaaten. Diesen, etwa Qatar Airways und Emirates Airlines, werden immer mehr Start- und Landerechte sowie höhere Flugfrequenzen auf den französischen Flughäfen eingeräumt, während die reaktionären Golfmonarchien, die die Ölrente in ihren Ländern abschöpfen, sehr viel öffentliches Geld in ihre Fluggesellschaften investieren, um diese international konkurrenzfähig werden zu lassen.
Besonders Qatar Airways wird in Frankreich von der Staatsmacht geschätzt, ihr Chef, Akbar al-Baker, erhielt jüngst den Orden der Légion d’honneur, eine Verdienstmedaille der französischen Republik. Viele Beobachter sind der Auffassung, dies sei eine der Gegenleistungen dafür, dass der Golfstaat mehrere Jets des Kampffliegertyps Rafale aus dem Hause des französischen Rüstungsfabrikanten Serge Dassault kaufte, die bis dahin aufgrund häufiger technischer Pannen so gut wie niemand abnehmen wollte. Und dafür wird, monieren Kritiker, das Personal der zivilen Luftfahrt geopfert.