Der Alltag mit einem syrischen Mitbewohner

Datteln nach Sonnenuntergang

Die Bundeskanzlerin kann sich nicht vorstellen, einen Flüchtling bei sich zu Hause aufzunehmen. Unser Autor Nils Elias Molle hat es getan und berichtet vom Zusammenleben mit seinem syrischen Mitbewohner.

Als ich Mohammad Sahid A.* vom Bahnhof abhole, bin ich überrascht. Meiner klischeehaften Vorstellung eines traumatisierten Flüchtlings, der gerade aus einem Land kommt, in dem Krieg und Hunger herrschen, entspricht er so gar nicht. Eher wirkt er wie ein Urlaubsreisender mit Reisekoffer, Silberkettchen und Smartphone. Was ich zu diesem Zeitpunkt weiß: Seit acht Monaten ist er in Deutschland, er war in Asylheimen in verschiedenen Bundesländern untergebracht, hat in Damaskus Allgemeinmedizin studiert und will in Leipzig seine Approbation zum praktizierenden Arzt beantragen. Eine syrische Freundin hat uns vermittelt, sie hat mit Hilfe ihrer Mutter den Großteil ihrer Familie nach Deutschland holen können. Sahid ist ein Freund der Familie und gehört gewissermaßen dazu. Wir essen zusammen, lernen uns ein wenig kennen, machen einen Plan für die nächsten Tage.
Es ist Februar. Wir fahren mit der Tram durch die verregnete Stadt – Bürgeramt, Ausländerbehörde, Jobcenter. »Leipzig ist nicht schön«, sagt Sahid. Aber was soll man auch sagen, wenn man tagelang nur durch graue Behörden zieht? Zwischendurch fahre ich in die Uni, am Abend erledigen wir den Papierkram, so geht die erste Woche um. Keine gute Grundlage für eine Freundschaft.
Während Legida den wöchentlichen Abend­spaziergang veranstaltet, stehe ich mit ihm in der Küche und reibe Tomaten. Wir kochen zusammen arabisches Essen, können das erste Mal in Ruhe reden. Sahid betont mehrmals, dass er Arzt ist und dass die meisten seiner syrischen Freunde Medizin studiert haben. Den Satz »Er ist ein Arzt« werden ich und meine Frau noch oft von ihm hören. Studierte Ärzte aus dem Ausland kommen nach Sachsen, weil man hier für die Approbation keine schriftliche Prüfung bestehen muss, es reicht eine Bescheinigung über die Möglichkeit einer Anstellung nach einer achtwöchigen Hospitation in einer Klinik. Sahid spricht gut deutsch und lässt sich das auch gerne bestätigen. Er nimmt mit 13 anderen arabischen Männern an einem Sprachkurs für Mediziner teil und erlernt das deutsche Fachvokabular. Tagsüber besucht er Krankenhäuser und fragt nach einem Praktikum, abends feilen wir an seiner Bewerbung und suchen Adressen raus.
Er ist einer von rund 100 000 syrischen Flüchtlingen in Deutschland beziehungsweise einer von 20 000 in Sachsen. Seine Einreise ist die Geschichte eines Privilegierten, der das Glück hatte, ein Visum für die USA bewilligt zu bekommen, und es sich leisten konnte, ins Flugzeug zu steigen. Bei der Zwischenlandung in Frankfurt stieg er aus und wurde zum Asylverfahren nach München geschickt. Für Sahid bedeutet diese Reise, bereit zu sein, alles hinter sich zu lassen. In seinem Reisepass ist nun vermerkt »Einreiseberechtigt in alle Länder außer SYR«.
Trotz vieler bürokratischer Hürden, die er nehmen muss, singt Sahid ein Loblied auf Deutschland mit der immer gleichen Zeile: »Die Araber sollten sich hier benehmen, Deutschland ist gut zu ihnen.« Doch das Jobcenter bewahrt ihn vor allzu großem Enthusiasmus. Man schickt ihn mit Wohnungsangeboten durch die ganze Stadt, um ihm am nächsten Tag mitzuteilen, dass die Angebote den Wohngeldetat übersteigen und er sich selber um eine Unterkunft kümmern muss. Er bekommt eine Zusage für eine Hospitation bei einem örtlichen Krankenhaus. Das Jobcenter spricht Sahid aber nur ein Hospitationsrecht für sechs Wochen aus – weil er doch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen muss. Um die erforderlichen acht Wochen für die Approbation zu erreichen, kümmert er sich um eine weitere Hospitationsstelle, die ihm zugesagt wird und von der er dem Jobcenter nichts erzählen wird.
Vielleicht liegt es an der unsicheren Situation, dass das Zusammenleben mit Sahid nicht reibungslos verläuft. Als unsere Tochter abends weint und ich sie im Schlafzimmer auf den Arm nehme, kommt Sahid ins Zimmer und will, dass ich ihm das Kind gebe. Vielleicht will er uns helfen, doch ich will auch etwas von meiner Privatsphäre erhalten. Auch im Haushalt muss ich ihm Dinge erklären, die für mich völlig selbstverständlich sind. Er wäscht selten ab, lässt Lebensmittel verschimmeln und pinkelt im Stehen. Mal will er mit mir um 22 Uhr noch seinen Papierkram erledigen, während ich etwas für die Uni machen muss. Immer wieder sind wir kurz davor, ihn rauszuschmeißen, doch wir trauen uns nicht. Von unseren Freunden bekommen wir unterschiedliche Dinge zu hören. Manche sagen: »Ihr seid zu gut, der kriegt doch Geld, der sollte sich eine eigene Wohnung suchen.« Andere meinen: »Seid mal netter zu dem, in Syrien werden Menschen geköpft.«
Die Hospitation beginnt im April. Jetzt ist Sahid ab sechs Uhr morgens in der Klinik und bis neun Uhr abends beim Sprachkurs. Wir sehen uns tagelang gar nicht mehr, ich höre sein Arabisch bis Mitternacht aus dem Zimmer dröhnen. Er telefoniert mit seiner Familie, mal lacht er, mal weint er. Wenn ich ihn sehe, dann immer mit Headset im Ohr, und manchmal muss unsere Tochter in die Kamera grinsen. »Maschallah, meine Familie klopft auf Holz für dich!« Er zeigt mir Fotos von seiner Schwester und seiner Mutter. Sie sind zusammen in den Libanon geflohen. Seine Mutter ist krank, er macht sich Sorgen um sie. Er schickt ihnen einen Teil von seinem Hartz IV, Geld von uns will er nicht annehmen.
Unsere Parallelleben laufen ein paar Wochen so. Dann kommt ein Freund von ihm: »Er ist ein Arzt, er will nur ein paar Tage bleiben.« Er darf so lange bleiben, wie er will, solange sie in einem Zimmer schlafen. So machen sie es und ich weiß nicht, ob ich ihnen Unrecht tue. Zwischendurch sind sie zu dritt, zusammen sitzen sie bis spät in die Nacht in unserer Küche, dann schläft einer im Wohnzimmer. Manche sprechen besser deutsch, manche schlechter. Alle wollen nur schnell ihre Approbation und dann dorthin, wo sie die meisten Bekannten haben. Sie reden sich auf der Straße an, fragen, was der andere braucht, und tauschen Nummern. Bisher habe ich mich nicht für die Nationalität der Menschen in meiner Nachbarschaft gekümmert. Nun höre ich von Sahid immer wieder die Frage: »Ist er Araber?«
Der erste sonnige Tag im Mai. Sahid schickt mir eine Nachricht, er ist im Krankenhaus, er hatte einen Kreislaufzusammenbruch. Nach seiner Entlassung bleibt er ein paar Tage zu Hause. Er muss ohnehin für die Sprachprüfung lernen. Jetzt schläft er bis Mittag und ist bis spät in die Nacht in der Universitätsbibliothek, um zu lernen. Wenn wir uns nachts in der Küche treffen, kämpft er mit den Tränen, wenn wir von Damaskus reden.
Sahids Lebensgeschichte erfahre ich nach und nach. Je öfter und länger wir uns unterhalten, desto mehr erzählt er davon, wie es früher war. Ob er den Film »Avatar« schon gesehen hat? »Ja, im Kino, in 3D. Vor dem Krieg.«
Unsere Tagesabläufe sind zu unterschiedlich, als dass wir gemeinsam einen Film anschauen oder etwas unternehmen könnten. Während des Ramadan schläft Sahid bis Mittag, wenn wir gerade wieder nach Hause kommen. Was uns zusammenbringt, ist das Essen. Wir teilen die erste Dattel nach Sonnenuntergang und versuchen bis spät in die Nacht, uns zu verständigen. Die Gespräche gehen meistens über die Eigenarten der Deutschen und über unaussprechliche Wörter. »Eichhörnchen? Was soll das heißen? Ich nenne das Tier einfach kleines Arschloch.«
Sahid besteht den Sprachtest: Deutsch C1 für Mediziner. Die Hospitation ist beendet, die Ärztekammer bestätigt die Ausstellung einer Approbation. Zwei Zettel, die ein anstrengendes halbes Jahr gekostet haben. Ich bin stolz, dass wir es zusammen gemeistert haben, glücklich darüber, dass wir immer noch zusammenleben.
Sahid geht auf Jobsuche und hat nach einer Tour vom Bodensee bis zur Ostseeküste drei Zusagen. Er entscheidet sich für eine Stelle in Sachsen-Anhalt als Assistenzarzt im Krankenhaus. Es bleibt ein wenig Zeit, zu resümieren. Noch mal gemeinsam etwas zu unternehmen, bevor er auszieht. Shisha rauchen im Innenhof und spazierengehen. Auch für ihn sei es eine wichtige Erfahrung gewesen und eine Hilfe, hier anzukommen. Wenn er Geld hat, will er mit uns nach Dubai fliegen: »Ihr drei und ich und meine Mutter und meine Schwester, wir alle zusammen, Dubai ist wunderschön.« Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, muss Sahid fünf Jahre arbeiten. »Das mach’ ich!«, sagt er mit einem Grinsen. Nur so kann er seine Familie legal nach Deutschland holen.

* Name vom Autor geändert.