Hilfsmittel bei Handicaps sind noch immer ein Ausschlussgrund

Der soziale Ausschluss des Markus Rehm

Weitspringer Markus Rehm zählt zur Spitzenklasse in seiner Disziplin, doch lässt man ihn nicht an den großen Wettbewerben teilnehmen. Denn Rehm fehlt ein Unterschenkel, er springt mit einer Prothese.

Er hüpft und hüpft und kann es nicht lassen. Markus Rehm aus Leverkusen ist 8,40 Meter weit gesprungen. Weltklasse einerseits, andererseits wird Rehm selbst von Nachrichtenagenturen als der »Prothesenspringer« bezeichnet. Markus Rehm fehlt ein Unterschenkel, und er springt mit Prothese.
»Mir war schon vor dieser WM klar, dass die Diskussionen wieder losgehen«, sagte der 27jährige Rehm nach seinem sensationellen Sprung bei den Leichtathletik-WM der Behinderten in Katar. »Die Diskussionen« drehen sich darum, ob Rehm zu den sogenannten Offenen Wettbewerben der Leichtathleten reisen darf, zu Europa- und Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen.
Darf er nicht. Das ist der Stand der Dinge. Und er selbst bedauert das. »Dass man jahrelang hart arbeitet und diese Leistungen dann in Frage gestellt werden, ist eine bedenkliche Entwicklung«, sagte Rehm dem Sportinformationsdienst (SID). Und noch ist Rehms Kampf um Teilnahme auch nicht zu Ende. Jeder gute Sprung befeuert die Diskussion aufs Neue.
Denn Rehms Fall berührt das an sich ja einfache Versprechen des Sports. Das lautet, zumindest theoretisch: Alle Menschen dürfen bei ihm mitmachen, sich in Wettkämpfen messen, an ihre körperlichen Grenzen gehen. Am Ende weiß man dann, wer der Stärkste ist, wer der Schnellste, oder auch, wer am weitesten springt.
Alle Menschen? Auch Markus Rehm? Während mit allerlei biomechanischen Hinweisen so getan wird, als sei die sportjuristische Behandlung von Rehms Karbonprothese ein Problem, für dessen Lösung es geeigneter naturwissenschaftlicher Fachleute bedürfe, geht es doch vor allem um einen sozialen Ausschluss – beziehungsweise, anders gesagt, darum, dass Sportverbände die Teilnahme von neuen Personengruppen bei ihren doch eigentlich für alle offenen Wettbewerben abwehren.
Sozialer Ausschluss im Sport ist immer problematisch. Historisch betrachtet ging es meist darum, dass Menschen ihr Recht auf Teilhabe erkämpfen mussten: Arbeiter, denen man nachsagte, gegen das Amateurstatut zu verstoßen, weil sie ja gemeinerweise in täglicher Lohnarbeit ihre Körper kräftigten; Frauen, denen untersagt wurde, ihre Körper in unschicklicher Weise zu präsentieren.
Der Kampf gegen sozialen Ausschluss war immer einer für Demokratie und Teilhabe. Aber lässt sich der Ausschluss prothesentragender Leichtathleten historisch vergleichen? Mit den Negro leagues im amerikanischen Baseball, als Afroamerikaner nicht in der weißen Profi­liga spielen durften? Liegt etwas vor, das man mit der feinen und fast nur noch im organisierten Sport denkbaren Unterscheidung zwischen »Schach« und »Frauenschach« vergleichen könnte? Oder ist das alles nur so bedeutend wie die Gewichtsklassen, die sich am Körpergewicht des Sportlers orientieren?
Letzteres wäre die einfachste Antwort. Sie wäre unskandalös und für den organisierten Sport am elegantesten. Es ist nur von allen möglichen Analogien die am wenigsten passende: Zum einen kann die Gewichtsklasse gewechselt werden, indem man ab- oder zunimmt, und ein Boxer darf den Meister einer schwereren Klasse herausfordern. Zum anderen ist, etwa im Gewichtheben, die Leistung der leichteren Heber schlicht niedriger, denn es gibt eine Korrelation zwischen Muskelmasse und Kraft.
Es ist also schon klassischer sozialer Ausschluss, wenngleich er vielleicht nicht an Rassismus oder an Sexismus erinnert. Es geht aber um die ordinäre Behindertenfeindlichkeit.
Denn bei allen vermeintlich objektiven Argumenten, die gerade vorgetragen werden, sollte doch auffallen, dass bestimmte Handicaps, die dank Medizintechnik nicht mehr als Behinderung gelten, im Sport schon längst keine Rolle mehr spielen: Wer wollte Brillenträger von Schießwettbewerben ausschließen? So borniert, dass ein Bogenschütze mit Brille ja einen unfairen Vorteil habe, hätte man vielleicht vor 60 oder 90 Jahren schwadroniert – aber heute?
Es dürfte kein Zufall sein, dass wir gerade jetzt über das Recht von Prothesenträgern auf Teilhabe diskutieren. Rehm und andere stehen nämlich auch für das Ende eines unangenehm patriarchalen Umgangs mit Behinderten (ehrlicherweise muss man einschränken: mit körperlich Gehandicapten). Rehm repräsentiert also mit seinen sportlichen Erfolgen, die er nicht mehr nur bei gönnerhaft rezipierten Events wie den Paralympics erreichen möchte, einen selbstbewussten Typus des Behinderten, der zu Recht aufbegehrt.
Seine selbstbewusste Wortmeldung fällt aber in eine Zeit, in der im Sport über Doping und in der übrigen Welt über enhancement gestritten wird: Leistungssteigerung durch externe Unterstützung. Auch wenn es bisher kein Beispiel dafür gibt und in absehbarere Zukunft auch keines geben wird, erlaubt die Diskussion ein bizarres Gedankenspiel: Es könnte unter den Bedingungen eines noch tiefer als heute kapitalistisch durchdrungenen Profisports für einen Athleten, dessen gesamtes materielles, soziales und kulturelles Kapital darauf fußt, Weltrekorde zu erzielen, attraktiv erscheinen, seine Beine durch Prothesen zu ersetzen. Das klingt irre und dürfte auch irre sein.
Es geht also derzeit um die Teilhabemöglichkeit für alle Menschen am Sport. Gleichzeitig muss es darum gehen, dass dieses urdemokratische Recht, das viele noch erstreiten müssen, selbstverantwortlich wahrgenommen werden kann – und nicht zu einem von der kapi­talistischen Konkurrenz vermittelten Zwang wird, der Gedankenspiele wie das oben genannte überhaupt erst nahelegt.