In Israel hört der Terror gegen Juden nicht auf

Im Geist des Muftis

Die Angriffe auf Israelis gehen weiter. Eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht, das Gefühl der Hilflosigkeit in Israel wächst.

Wenn alles so einfach wäre wie in Spanien. Dort fand in Anwesenheit von Daniel Kutner, Israels Botschafter in Madrid, vor einigen Tagen eine kleine, aber symbolträchtige Zeremonie statt. Das Dorf Castrillo Matajudíos, zu Deutsch »Castrillo Judentöter«, änderte offiziell seinen Namen in Castrillo Mota de Judíos, »Castrillo Hügel der Juden«, wie es in einer Abstimmung unter seinen 56 Einwohnern vom Mai 2014 beschlossen worden war. Feierlich wurden neue Ortsschilder angebracht. »Immer wieder wurde man gefragt, ob wir noch heute Juden töten würden«, klagte Bürgermeister Lorenzo Rodríguez. »Irgendwann waren wir es einfach leid.« Das Thema ist damit vom Tisch, ganz einfach dank eines Referendums.
In Israel hört der Terror gegen Juden hingegen nicht auf. Mehrfach täglich ereignen sich seit Wochen im ganzen Land Übergriffe auf Zivilisten und Soldaten, viele davon tödlich. Araber aus Ostjerusalem, den besetzten Gebieten und in einigen Fällen sogar aus dem israelischen Kernland gehen mit Schlachterbeilen, Messern und Schraubenziehern an öffentlichen Plätzen auf Israelis los oder benutzen Autos als Waffe. Die Intifada, die offiziell nicht so heißt, lässt nicht nur den Ton zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) schärfer werden, sondern verunsichert auch viele Israelis im Alltag.

»Ich bringe meine beiden Söhne jetzt nur noch mit dem Auto zur Schule«, berichtet Naomi Katz. »Dabei liegt diese nur wenige hundert Meter von unserer Wohnung entfernt«, so die 40jährige Ärztin aus Tel Aviv. In ihrer Straße wird derzeit viel gebaut und fast alle der Arbeiter sind Araber. »Ich weiß, es klingt irgendwie paranoid, aber ich hätte ansonsten keine ruhige Minute«, sagt Katz. Als kürzlich ihr Wagen nicht ansprang, kamen zwei der Bauarbeiter und leisteten spontan Starthilfe. »Sie waren unglaublich freundlich und hilfsbereit.« Dennoch hatte sie einen Moment Angst und wusste anfänglich nicht, wie sie reagieren sollte. »Ich hasse mich dafür. Auf der einen Seite will man vorsichtig sein und alle Gefahrensituationen vermeiden, auf der anderen nicht ungerecht oder gar rassistisch erscheinen.« Damit bringt sie das Dilemma vieler Israelis derzeit auf den Punkt. Welche verheerenden Folgen das grassierende Misstrauen haben kann, bewies ein blutiger Vorfall am 18. Oktober in der Negev-Metropole Be’er Sheva: Mouhand al-Okbi, ein 21jähriger Beduine, attackierte im Busbahnhof den 19jährigen Sergeanten Omri Levy, griff nach dessen Waffe und ermordete ihn. Danach verletzte er mehrere Personen zum Teil schwer. Der 26jährig Habtom Zerhom, ein Flüchtling aus Eritrea, der sich gleichfalls dort aufhielt und wie viele andere vor dem Angreifer Schutz suchte, wurde fälschlicherweise von einem Sicherheitsoffizier für einen Komplizen des Terroristen gehalten und angeschossen. Aber nicht nur das. Wie eine Videokamera aufzeichnete, fielen mehrere Personen über den bereits auf dem Boden liegenden Mann her und schlugen auf ihn ein. Nur wenige Stunden später erlag der Eritreer im Krankenhaus seinen Verletzungen. Vier der an diesem Lynchmord Beteiligten wurden nun verhaftet, zwei von ihnen sind übrigens Wachoffiziere in israelischen Gefängnissen.
Für die Israelis war das ein weiterer Schock, aber keiner, der wirklich überraschend kam. »Wenn Politiker die Bürger dazu auffordern, Waffen zu tragen, und sich der Bildungsminister wie ein Cowboy mit der Pistole im Halfter fotografieren lässt, dann ist es kein Wunder, dass die Wirklichkeit irgendwann wie ein Wildwestfilm aussieht«, sagte Zehava Gal-On, die Vorsitzende der linkszionistischen Partei Meretz. Bei einer Friedensdemonstration mit rund 3 000 Teilnehmern in Tel Aviv am 24. Oktober ging sie noch weiter: »Die Regierung ruft zum Boykott arabischer Israelis auf, verteilt Freibriefe zum Töten und hetzt gegen die Linke.« Doch der Protest vom Wochenende offenbarte zugleich das Problem der Linken in Israel. Zum einen sind ihre Slogans immer noch dieselben wie vor 20 Jahren und wirken damit genauso fern der Realität wie viele ihrer Lösungsansätze. Zum anderen trägt es nicht zur Glaubwürdigkeit der Kritik an den Verhältnissen bei, wenn zu einer solchen Veranstaltung niemand von der Gemeinsamen Arabischen Liste, immerhin der drittstärksten Partei in der Knesset, eingeladen wird und der stellvertretende Bürgermeister der von Beduinen bewohnten Stadt Rahat im Negev der einzige nichtjüdische Redner bleibt.

Wie komplex die Situation ist, zeigen einige der jüngsten Ereignisse. In Be’er Sheva war der Täter ein Beduine. Am Mittwoch voriger Woche kam in Jerusalem ein Israeli zu Tode, weil er eine Gruppe von Soldaten für verkleidete Terroristen hielt, die aber das gleiche von ihm dachten und sofort zur Waffe griffen. Am Freitag darauf ging ein Palästinenser in Gush Etzion in der West Bank auf einen israelischen Soldaten los und verletzte ihn leicht. Schlimmeres konnte nur verhindert werden, weil der Terrorist von einem anderen Soldaten, einem Beduinen, der in den israelischen Streitkräften dient, rechtzeitig erschossen wurde. Repräsentanten der Beduinen zeigten sich überrascht, dass jemand aus ihren Reihen der Mörder von Be’er Sheva war. »Sheikh al-Okbi, das Familienoberhaupt des Clans, aus dem der Angreifer stammt, unterstützte sogar die Gründung des Staates Israel«, betonte Talal al-Krenawi, Bürgermeister von Rahat. »Deswegen schockiert uns die Tat umso mehr.« Andere erklärten sich das Verhalten des Attentäters damit, dass die Vorfahren seiner Mutter aus Gaza stammten und er deshalb kein »richtiger Beduine« sei.
Erklären musste sich dieser Tage auch der israelische Ministerpräsident. In einer Rede vor Delegierten des World Zionist Congress verwies Benjamin Netanyahu auf eine Begegnung zwischen Hitler und dem Mufti von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini. »Hitler wollte die Juden damals nicht ausrotten. Er wollte die Juden vertreiben«, so Netanyahu, wobei er sich auf den Zeitpunkt der Begegnung der beiden Ende 1941 bezog. Es sei der Mufti gewesen, der dem deutschen Diktator »Verbrennen Sie sie« geraten und damit den eigentlichen Anstoß zur Shoah gegeben habe. Der Versuch, die Verantwortung für die »Endlösung« auf diese Weise einem Palästinenser unterzujubeln, sorgte für reichlich Wirbel. »Völlig absurd«, urteilte Tom Segev. »Das klingt, als ob der Mufti gesagt hätte: ›Verbrenn die Juden!‹, und Hitler darauf mit der Antwort reagiert hätte ›Oh super, klasse Idee!‹«, so der Historiker und Publizist. Aber selbst Kritiker Netanyahus erinnerten daran, dass der Mufti ein erklärter Antisemit war und etwa im Fall der 4 000 jüdischen Kinder aus Bulgarien, deren Ausreise nach Palästina verhandelt wurde, Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um sie ins Vernichtungslager zu bringen.
Selbstverständlich lag Netanyahu mit seiner Aussage daneben und relativierte sie kurz danach auch. Trotzdem hat er in einem Punkt recht, nämlich hinsichtlich der Wurzeln des genozidalen Hasses auf Seiten der Palästinenser. Es gibt einen Grund dafür, dass der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, die Doktorwürde ausgerechnet mit einer Arbeit erlangen konnte, in der er den Holocaust in Frage stellt – eine Tatsache, die hierzulande niemanden sonderlich aufzuregen scheint, während die Äußerungen Netanyahus als Skandal empfunden werden. Die Akteure der derzeitigen Intifada beschwören mit ihren Taten den Geist des damaligen Muftis, der viel jüdisches Blut fließen sehen wollte und bis heute unwidersprochen als palästinensische Ikone gehandelt wird.

Auch für die Hamas ist er ein Vorbild. Zwei 20jährige, die erschossen wurden, bevor sie ein geplantes Massaker in einem Schulbus anrichten konnten, trugen T-Shirts mit der Aufschrift »Izz ad-Din al-Qassam«, die an den Namensgeber des militärischen Flügels der Hamas und Partner des Muftis in seinem Kampf gegen die Juden erinnert. Wie der Teenager, der bei Gush Etzion den Soldaten erstechen wollte, stammten die beiden Attentäter aus dem Dorf Surif bei Hebron und wurden offenbar vom sogenannten Westbank-Büro der Hamas gelenkt. Das belegt, dass einige der Attacken nicht spontan von »einsamen Wölfen« ausgeführt wird, wie gemeinhin angenommen, sondern von langer Hand geplant sind.
»Die Hamas hat sich selbst recht erfolgreich als verantwortlich für den aktuellen Aufstand gegen Israel inszeniert«, meint der Journalist und Sicherheitsexperte Avi Issacharoff. Insbesondere den Mord vom 1. Oktober am Ehepaar Henkin schrieb sie sich auf die Fahne. »Einige Analysten sind deshalb überzeugt, dass dieser Terrorakt definitiv kein Zufall war. Denn wenige Tage zuvor gab es im Gaza-Streifen Demonstrationen gegen die Herrschaft der Hamas«, so Issacharoff. Vor allem der Islamische Jihad will der Hamas dort die Führung streitig machen. »Gelingt es etwa dem Islamischen Jihad, einen größeren Anschlag mit vielen Opfern in Israel zu verursachen, dann gewinnt diese Gruppe in der öffentlichen Meinung der Palästinenser und auf der politischen Bühne an Gewicht.«
An dieser Eskalationsdynamik dürfte dann auch die am Wochenende auf Betreiben des US-Außenministers John Kerry und des jordanischen Königs Abdullah beschlossene Installierung von Videokameras auf dem Tempelberg in Jerusalem nicht mehr viel ändern können. Diese Kameras sollen bald 24 Stunden am Tag Bildmaterial senden. Man hofft, dass nun den Gerüchten, Israel wolle den Status quo auf dem Tempelberg ändern wollen, weniger Glauben geschenkt wird. Derzeit dürfen nämlich nur Muslime dort beten, nach Sicherheitskontrollen durch die israelische Polizei und Angestellte des jordanischen Waqf, der religiösen Körperschaft, die das Areal verwaltet. Doch viele Palästinenser lehnen selbst diesen kleinen Ansatz ab, den Konflikt zu entschärfen – obwohl Azzam Khatib, Direktor des Waqf, den Vorschlag begrüßt. »Netanyahu will diese Kameras nur installieren, um uns zu beobachten und unsere Leute zu verhaften«, behauptete Saeb Erekat, der Generalsekretär der PLO, umgehend. Wahrscheinlich würde der palästinensische Politiker sogar hinter der Namensänderung des kleinen Dorfes in Spanien ein Komplott Netanyahus vermuten.