Alte Stücke der Band Harmonia

Von hinten tupft es holpernd und dumpf

Harmonia waren die Supergroup des Krautrock. Ihr Sommer war kurz, ihr Einfluss aber ist kaum zu überschätzen. Ein umfangreiches Box-Set setzt der Band nun ein Denkmal.

Das Unvermeidliche zuerst: Harmonia ist die wichtigste Band der Welt. Das hat nicht irgendwer gesagt, sondern Brian Eno, und seitdem wird der Satz immer wieder zitiert, wenn es um die Band aus Niedersachsen geht. Ein anderer Begriff, der ständig in Bezug auf Harmonia verwendet wird, ist »Krautrock-Supergroup«. Denn in Harmonia verbündeten sich Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius von Cluster mit Michael Rother, dem Gitarristen von Neu!.
Roedelius und Moebius hatten mit Conrad Schnitzler 1969 in Berlin die Band Kluster gegründet. Nach drei Alben trennte sich die Gruppe zwei Jahre später und Roedelius und Moebius machten unter dem Namen Cluster weiter. Ihr selbstbetiteltes Debüt-Album ist 1971 bei Philips erschienen. Wahrscheinlich ist die von Conny Plank produzierte Platte nach wie vor eines der ungewöhnlichsten Alben, das je von einem Major-Label veröffentlicht wurden. Kaum überraschend beschloss man bei Philips, dass ein Cluster-Album genug sei; den Nachfolger »Cluster II« veröffentlichte das Duo im folgenden Jahr bei Brain Records, wo auch die beiden Harmonia-Alben erscheinen sollten.
Mit dem Angebot, auf einem alten Bauernhof ein Studio einzurichten, verließen Roedelius und Moebius Berlin und zogen aufs Land, nach Forst in Niedersachsen. Ein Antiquitätenhändler hatte die Immobilie an der Weser gekauft, das Gebäude allerdings nur unter der Auflage erhalten, dort ein Kulturzentrum zu schaffen. Der Mann brauchte also Künstler und lud Roedelius und Moebius ein, auf dem Weserhof zu leben und zu arbeiten. Von Naturromantik hatte das Leben in der Einöde erst einmal nicht viel, wie David Stubbs in seiner Krautrockgeschichte »Future Days« berichtet. Moebius soll beim ersten Besuch des neuen Domizils für eine direkte Kehrtwendung plädiert haben; es gab einen Wasserhahn für drei Gebäude, keine Toiletten, keinen Strom. Die Künstler arrangierten sich mit der Situation, nicht zuletzt war das Wohnen günstig und es gab viel Platz. Zu den Besuchern in Forst gehörte auch Michael Rother aus Düsseldorf, dessen Band Neu! zu jener Zeit auf Eis lag. Rother blieb auf dem Weserhof und die neue Band war geboren. Im Keller stießen die drei auf ein Schild eines Gesangsvereins aus dem Nachbardorf: »Harmonia Ottenstein« stand darauf, und so war auch der Name gefunden.
Man hatte also in Berlin und Düsseldorf ­gelebt und nun die Maschinen nach Forst gebracht. 1973 nahmen Harmonia ihr erstes ­Album auf, das als »Musik von Harmonia« noch im selben Jahr bei Brain Records erschien. Das ikonische Cover von Dieter Moebius ziert in blau-gelb-rotem Pop-Art-Design eine Reinigungsmittelflasche mit dem seltsamen Harmonia-Logo, das wie eine Mischung aus stilisiertem Feuerwerk und Palmwedel-Wesen aussieht, dahinter ein im Stil Roy Lichtensteins gerastertes flammenartiges Muster. Das Cover ist passend, denn auf ebenso stimmige Weise schafft es die Musik, profan und entrückt zu klingen, unmittelbar eingängig und direkt zu sein und zugleich undurchschaubar, vielschichtig und aus der Summe der Teile nicht erklärbar. In asynchronen Loop-Schleifen etlicher Bandechos wabern auf »Musik von Harmonia« Farfisa­orgeln, Gitarren und Drummachines umeinander, ohne gravierend aus dem Tritt zu geraten und vor allem ohne je den Kontakt zueinander zu verlieren. Hier wird weder der Mensch-Maschine gehuldigt noch pastorale Naturlyrik getupft, aber die paradoxe Verbindung aus beidem versucht, wohlwissend, dass es eigentlich nicht geht. Im Resultat ist »Musik von Harmonia« vollkommen eigenständig; maschinell, mechanisch und zugleich so organisch und lebendig wie kaum je wieder eine elek­tronische Platte.
Kommerziell war Harmonia kein Erfolg; nicht nur die Plattenverkäufe waren miserabel, auch auf Konzerten waren 50 Gäste ein Rekordwert. Manchmal kamen nach Hunderten von Kilometern Anreise auch nur drei Besucher, wie Rother sich erinnert.
Mit der jüngst erschienenen Sammlung »Complete Works« von Harmonia kann der geneigte Sammler sich endlich sämtliche Alben der Band ins schwarze Plastik gepresst zulegen: »Musik von Harmonia«, den Nachfolger »De­luxe« sowie den 2007 erstmals veröffent­lichen Konzertmitschnitt »Live 1974« und die 1976 mit Brian Eno gemachten Aufnahmen, die als »Tracks and Traces« 1997 zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Hochgerechnet liegt der Preis dann bei gut 20 Euro pro LP, was momentan leider kein exorbitanter Preis für Vinyl zu sein scheint.
Auf »Documents 1975« befinden sich zwei Live-Songs und zwei Aufnahmen, die »at Harmonia-Studio in Forst« gemacht wurden, wie die Zusätze der Songtitel zu »Proto-Deluxe« und »Tiki Taka« verraten. »Proto-Deluxe« weist durch den Namen auf seine Verwandtschaft mit dem Titelsong des zweiten Albums hin. Statt der verträumten Atmosphäre der Albumversion, wo die Drummachine auf ein dumpfes Tupfen im Hintergrund reduziert ist, rollt hier jedoch ein flotter Beat, und auch das Fundament aus Orgel-Loops weist einiges mehr an Dringlichkeit auf als die allzu harmonische Version der LP. »Tiki Taka« enthält den prägnanten Abwärtslauf aus »Walky Talky« vom Deluxe-Album, klingt davon abgesehen aber ebenfalls ziemlich anders: das Tempo ist wesentlich höher und statt dem gemütlich geshuffelten Schlagzeug und den flächigen Gitarren treibt ein Uffda-Beat von der Drummachine zusammen mit einem elektronischen Orgelgerüst, das beinah nach Kraftwerk klingt, den Song voran. Beide Stücke erscheinen wie aus einer Übergangsphase zwischen den ersten beiden Alben, als das vieldimensionale, polyrhythmische Geholper und Geschiebe sich in transparentere und geordnetere und damit leider auch allzu gefällige Songs auflöste. Dazu gesellen sich unter den »Documents« Ausschnitte von zwei Auftritten, die Harmonia 1975 an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in Hamburg gespielt haben. Die Soundqualität ist gut und die Aufnahmen lassen erahnen, was für eine famose Live-Band Harmonia gewesen sein müssen. Die Entwicklung vom verspulten Gerumpel des Debüt-Albums hin zu strukturierteren Formen ist auch hier deutlich zu hören, aber im Gegensatz zur plätschernden »Deluxe«-Platte sind die Live-Songs voller Energie. Ob es Mani Neumeier von Guru Guru ist, der die Band bei den beiden Auftritten auf dem Schlagzeug begleitet – er hat auch auf »Deluxe« getrommelt –, ist aus dem Pressematerial zur Box leider nicht zu entnehmen, wie auch ansonsten über die Auftritte nicht viel zu erfahren ist. Hoffentlich gibt das Cover der LP hier mehr Aufschluss.
Für alle, die bereits die eine oder andere Harmonia-Platte im Schrank stehen haben, sind lediglich die neuen »Documents 1975« von Interesse. Es sei denn, jemand wartet wirklich sehnlichst darauf, sich endlich das Harmonia-Poster in die Küche zu hängen oder die Vitrine mit einem Popup-Aufsteller des Harmoniahauses krönen zu können. Gimmicks dieser Art wirken wie der angestrengte Versuch von Groenland Records, den Eindruck zu erwecken, die angebotene 110-Euro-Box habe mehr Neues zu bieten als vier bislang unveröffentlichte Songs. Ein ausführlicheres Booklet wäre schön gewesen, denn daraus ist nur recht wenig über die Band zu erfahren. Mehr über das Leben auf dem Weserhof und vor allem die mu­sikalische Arbeit und Geschichte von Harmonia lesen zu können, hätte die Box über den Sammlerwert hinaus interessanter gemacht. Der dreiseitige Text von Geeta Dayal gibt in dieser Hinsicht nicht allzu viel her. Immerhin sind ein paar bisher unbekannte Bilder der Band und ihres Umfelds zu sehen.
Leider hat die Realität offenbar auch die Produktion der Box überholt; der Text im Booklet berichtet, alle drei Harmonia-Mitglieder seien noch aktiv, »sogar mehr denn je«. Dieter Moebius ist im Juli dieses Jahres gestorben. Die »Complete Works« von Harmonia erscheinen also auch als Erinnerung an ihn. Und natürlich als Denkmal dieser phantastischen und in ihrem Einfluss kaum zu überschätzenden Band.

Harmonia: Complete Works (Groenland Records/Rough Trade)