Die Abschaffung der Netzneutralität

Doris-Day-Internet

Die Abschaffung der Netzneutralität bedeutet ein Zurück in die »gute alte Zeit« – keine gute Nachricht.
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Der Anrufbeantworter wurde 1934 in den USA erfunden. Bis er dort auf den Markt kam, dauerte es dann allerdings noch Jahrzehnte. Der Grund: Die Manager der Telefongesellschaft AT&T hielten die Erfindung unter Verschluss. Sie hatten Angst, dass die Kundschaft dem neuen Medium misstraut, wenn sie merkt, dass Telefonate aufgezeichnet werden könnten. Dass der Anrufbeantworter überhaupt so lange zurückgehalten werden konnte, liegt daran, dass AT&T auf dem US-Markt ein Monopol hatte und ähnlich rigide über das Telefonnetz bestimmte wie hierzulande die Bundespost. Dies ist eine von vielen Geschichten aus dem Buch »Der Master Switch« des amerikanischen Juristen Tim Wu. Egal ob Telefon, Kino, Radio oder Fernsehen – alle Geschichten folgen demselben Muster: Wenn ein neues Medium erfunden wird, ist es offen und anarchisch. Bauern spannen Klingeldrähte an ihren Äckerzäunen, um ein Dorftelefonnetz zu etab­lieren. Funkamateure eröffnen Radiostationen und übertragen die Musik vom Dorftanz in die nähere Umgebung – oft ganz ohne kommerzielle Hintergedanken. Doch irgendwann kommt ­immer der Punkt, an dem Konzerne es schaffen, neue Medien ihren Interessen zu unterwerfen, Konkurrenz auszusperren und die Nutzer ihrer Netze zu gängeln und zu melken. Sie verbieten den Kunden die Verwendung innovativer Geräte. Sie verhindern, dass Inhalte von Konkurrenten ausgestrahlt werden. Sie zwingen Kinobetreiber, mit jedem Blockbuster auch ein paar B-Movies zu zeigen. Auf Betreiben christlicher Fundamentalisten konnten sie sogar fast 40 Jahre lang dafür sorgen, dass bestimmte Darstellungen von Gewalt, nackte Brüste oder einfach nur Doppelbetten in keinem US-amerikanischen Film zu sehen waren. Die Folgen: Verhinderung von Innovation, Langeweile, kultureller Stillstand und Doris-Day-Filme für Jahre oder gar Jahrzehnte.
Lange sah es so aus, als sei das Internet anders als frühere Medien. Technisch ist das Netz auf Offenheit ausgelegt, die Standards haben öffentliche Einrichtungen gesetzt. Wer auch immer etwas online anbieten will, kann seinen Server ans Netz anschließen und mitspielen, ohne Geld für Lizenzen zu benötigen, irgendwelche Genehmigungen einzuholen oder bestimmte Geräte zu überteuerten Preisen von einem Monopolisten kaufen zu müssen. So konnte sich das Internet seit den ersten Anfängen in den sechziger und siebziger Jahren seinen anarchischen Charakter bewahren.
Diese Zeit dürfte zumindest in Europa bald Geschichte sein. Das EU-Parlament hat die Netzneutralität abgeschafft. Sie steht zwar noch auf dem Papier, aber Providern ist es erlaubt, für sogenannte Spezialdienste zusätzliche Gebühren zu verlangen. Zudem wurde kürzlich beschlossen, dass Endkunden nicht mehr beliebige Modems nutzen dürfen, sondern das ihres Netzanbieters verwenden müssen. Der Vorstandsvorsitzende der Telekom, Timotheus Höttges, machte bereits deutlich, dass er künftig Start-ups zur Kasse bitten will, wenn sie ihre Dienste im Netz anbieten wollen. Wer nicht zahlt, dessen Daten werden nicht oder zu langsam durchgeleitet. Es sieht so aus, als sei nun auch das Internet in der schlechten alten Zeit von Radio, Fernsehen und Telefon angekommen. Jedenfalls, bis mit der nächsten großen Medienerfindung das Spiel von vorne beginnt.
In einer früheren Version des Kommentars stand, dass Nutzer von Breitband-Internet-Anschlüssen gezwungen werden sollen, das Endgerät ihres Anbieters zu nutzen. Mittlerweile hat das EU-Parlament eine gegenteilige Regelung beschlossen.