Die Ukraine nach den Regionalwahlen

Handgemenge unter Patrioten

Bei den Kommunalwahlen in der Ukraine blieben wirkliche Überraschungen auch infolge der niedrigen Wahlbeteiligung aus. Jedoch könnte die Regierung mit der Verhaftung eines engen Mitstreiters des Dnipropetrowsker Milliardärs Ihor Kolomojskyj die innenpolitische Krise verschärfen.

Mit dem Slogan »Die Zukunft nicht verschlafen« warben in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zahlreiche Plakate für die Teilnahme an den Kommunalwahlen am 25. Oktober. In Kiew verschliefen am Ende fast 60 Prozent der Wahlberechtigten die Stimmabgabe. Einzig in einigen Teilen der Westukraine waren über 50 Prozent bereit, ihre Stimmen abzugeben. Präsident Petro Poroschenko hatten sich gewünscht, dass alle Rathäuser von »proukrainischen Koalitionen« regiert würden. Nach den vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom vorigen Jahr sollten damit seiner Interpretation zufolge der »Neustart« des politischen Systems vollendet und die Räte auf allen Ebenen mit zur neuen Staatsmacht loyalen Kräften besetzt werden. Doch insbesondere in den von der Zentralregierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Lugansk stimmten viele für den sogenannten Oppositionsblock und andere von Anhängern des nach Russland geflohenen ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch gebildete Wahlprojekte.
Um näher an das Wunschergebnis zu kommen, war noch vor Beginn des Wahlkampfs ein maßgeschneidertes Wahlgesetz verabschiedet worden, das unter anderem auch die Einführung einer Frauenquote von 30 Prozent vorsah, was aber weitgehend folgenlos blieb. Wegen mieser Umfrageergebnisse nahm die mitregierende Narodny Front (Volksfront) von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erst gar nicht an den Wahlen teil. Der von sowjetnostalgischen Rentnern bevorzugten Kommunistischen Partei war sicherheitshalber auf Basis eines neuen Gesetzes, das Kommunismus und Nationalsozialismus gleichsetzt, die Zulassung verweigert worden.

Der Block Petro Poroschenko »Solidarnist« (Solidarität), der die stärkste Parlamentsfraktion stellt, konnte in weiten Teilen des Landes zweistellige Ergebnisse erzielen. Ende August hatte Solidarnist mit der Partei des ehemaligen Boxers Vitali Klitschko, Udar (Schlag), fusioniert. Dem 44jährigen wurde zwar der Parteivorsitz übertragen, allerdings dient er mehr als Aushängeschild.
Gleichwohl trat Klitschko zur Wiederwahl als Bürgermeister in Kiew an. Da er durch vorgezogene Wahlen ins Amt gelangt war, dauerte seine Amtszeit laut Verfassung bis zum nächsten regulären Wahltermin. Zu seinen Wahlversprechen zählten vor allem die Einführung von elektronischer Verwaltung und öffentlichem W-Lan für die internetaffine Mittelschicht, der Abriss illegaler Kioske für Ordnungsbürger und die Reparatur von Aufzügen für die zuverlässig wählenden Rentner. Mit 40,5 Prozent der Stimmen reichte es nicht für den Sieg im ersten Wahlgang. Sein Gegner in der Stichwahl am 15. November ist aber eine Überraschung: Mit 8,8 Prozent der Stimmen setzte sich der Nationalist Boryslaw Beresa durch, der bis zu seinem Parlamentseinzug die Informationsabteilung des Rechten Sektors geleitet hatte. In der Wahlnacht auf eine mögliche öffentliche Debatte in einer Talkshow angesprochen, entgegnete Klitschko: »Ich bin kein Spezialist im Redebereich, aber ich verstecke mich nicht.« Dennoch räumt kaum jemand dem 41jährigen eloquenten ehemaligen Buchhändler Beresa Chancen ein. Im Stadtrat verlor Klitschko seine Mehrheit von 69 der 120 Mandate. Allerdings wird er nicht in die Verlegenheit kommen, auf eine »antiukrainische« Partei angewiesen zu sein. Diese scheiterten an der Fünfprozenthürde.

Anders sind die Kräfteverhältnisse im äußersten Osten des Landes. Der von Poroschenko in der Donezker Region eingesetzte Gouverneur Pawlo Schebriwskyj hatte sich zuvor in mehreren Interviews mit teils drastischen Worten gegen die Abhaltung von Kommunalwahlen im Donbass ausgesprochen. »Welche Wahlen, wenn die Leute Brei im Kopf haben?« sagte er Ende Juli gegenüber liga.net. Dennoch kam die ukrainische Regierung auch aufgrund des internationalen Drucks nicht umhin, die Menschen im Donbass wählen zu lassen. In der ehemaligen Separatistenhochburg Slowjansk führte das zum befürchteten Sieg des Oppositionsblocks.
Ähnliches wurde auch für die Hafenstadt Mariupol erwartet, die nur wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt liegt. Doch öffneten die Wahllokale nicht wie geplant um acht Uhr. In einem präzedenzlosen Vorgang hatten Vertreter acht selbstdeklarierter »demokratischer« Parteien in den Morgenstunden die Auslieferung der fertigen Stimmzettel aus der Druckerei verhindert. Diese gehört dem Oligarchen Rinat Achmetow, der mit zwei Stahlwerken der größte Arbeitgeber in der Stadt ist. In der Vergangenheit sollen mehrfach aus jener Druckerei zusätzliche Stimmzettel gekommen sein, mit deren Hilfe am Ende das richtige Ergebnis sichergestellt wurde. Zu den Präsidentschaftswahlen im Mai vorigen Jahres wurden aus Sicherheitsgründen Stimmzettel gar auf dem Seeweg in die Stadt gebracht, in der zuvor Kämpfe zwischen Armee und Separatisten stattgefunden hatten. Die Probleme waren bekannt, trotzdem griffen weder die Zentrale Wahlkommission noch Sicherheitsorgane vor den Wahlen ein. Auch der Protest des sich siegesgewiss gebenden Oppositionsblocks hielt sich in Grenzen. Beobachter schlossen daraus eine Absprache zwischen der Regierung in Kiew und den örtlichen Oligarchen. Ungeachtet dessen stellt der Fall sowie die Tatsache, dass Wahlen in anderen Orten im Donbass für ungültig erklärt wurden, die Zentralregierung vor ein Problem im Friedensprozess von Minsk. »Wir diskreditieren uns selbst. Wir erzählen, dass im Donbass erst Wahlen möglich sind, wenn wir dort die Macht zurückerlangen. Doch selbst in Mariupol schaffen wir es nicht, Wahlen abzuhalten«, sagte der Politologe Wadym Karassjow der Zeitung Westi. Derzeit liegt es am Parlament, einen neuen Wahltermin für die Stadt festzulegen, da eine Wahlabsage gesetzlich nicht vorgesehen ist.
Ähnliche Absprachen wie in Mariupol werden auch für die ostukrainische Millionenstadt Charkiw und die wichtige Hafenstadt Odessa vermutet. Ohne größeren Widerstand von Poroschenkos Partei und dem Oppositionsblock siegten in den beiden Städten die gern als prorussisch titulierten Amtsinhaber im ersten Wahlgang und können sich auf bequeme Mehrheiten im Stadtrat stützen.
Gute Ergebnisse erzielten die Neofaschisten von Swoboda (Freiheit), nachdem sie im vorigen Jahr bei den Parlamentswahlen an der Fünfprozenthürde gescheitert waren. Wohl auch dank des Nichtantretens des Rechten Sektors bekamen sie in Kiew, im zentralukrainischen Poltawa und in ihren Hochburgen in Galizien zweistellige Ergebnisse. Dabei galt Swoboda nach den Krawallen vor dem Parlament am 31. August, als vier Polizisten durch eine Handgranate getötet und Dutzende verletzt wurden, als diskreditiert. Doch gelang es der Partei, die anschließend verhafteten Swoboda-Mitglieder zusammen mit inhaftierten Frontkämpfern aus Freiwilligenbataillonen, denen Mord und Plünderung vorgeworfen wird, als Opfer des Systems darzustellen. Protestiert hatte der rechtsextreme Mob damals gegen die erfolgreiche Abstimmung über Verfassungsänderungen in erster Lesung, die den von Russland unterstützten Separatisten im Osten eine zeitweilige Autonomie ermöglichen würden. Die Änderungen sind Teil des Friedensplans, den zu befolgen vor allem Deutschland und Frankreich von Poroschenko verlangen.

Ein neues Kapitel im Kräftemessen zwischen den Militanten und dem Staat wurde dann am Samstag eingeleitet. Völlig überraschend wurde mit Hennadiy Korban die rechte Hand des ehemaligen Dnipropetrowsker Gouverneurs und Milliardärs Ihor Kolomojskyj von Geheimdienstleuten verhaftet. Vorgeworfen werden dem Vorsitzenden des Wahlprojekts Ukrop (Dill), dessen Kandidat in der Industriestadt gute Chancen hat, im zweiten Wahlgang Bürgermeister zu werden, Unterschlagung von Spendengeldern für die Armee und Entführungen. Unter anderem wird der Vorwurf der Finanzierung einer Privatarmee erhoben. 2014 galten Kolomojskyj und seine Mitstreiter noch als Retter der Nation, die den Separatismus mit legalen und illegalen Mitteln an den Grenzen des Dnipropetrowsker Gebiets aufhielten. Unter anderem finanzierten sie viele der Freiwilligenbataillone. Der Abgeordnete Oleh Ljaschko, Vorsitzender der Radikalen Partei, tönte sogleich in Kolomoiskys Fernsehsender 1+1: »Unter Poroschenko sitzen mehr Patrioten im Gefängnis als zu Zeiten Janukowitschs.« Der Führer des Rechten Sektors, Dmytro Jarosch, schrieb bei Facebook: »Es drängt sich der Eindruck auf, dass diejenigen an der Macht sind, die sich eine Vollendung der Revolution wünschen. Wir bereiten uns darauf vor und putzen unsere Waffen.« Nach den tödlichen Auseinandersetzungen mit Mitgliedern des Rechten Sektors um Schmuggeleinnahmen im EU-Grenzgebiet bei Mukatschewe erwiesen sich derartige Ankündigungen zunächst als Aufschneiderei.
Der Präsident verkauft die Verhaftung Korbans als Kampf gegen das oligarchische System. Der Süßwarenunternehmer Poroschenko, der im jährlichen Rating der reichsten Ukrainer der Wochenzeitschrift Nowoje Wremja als einziger in den Top Ten sein Vermögen im vergangenen Jahr vergrößern konnte, betonte in einem Fernsehinterview vom Sonntag: »Das ist erst der Anfang. Bei Korban wird niemand stehenbleiben.« Erst am Freitag vergangener Woche hatte US-Botschafter Geoffrey Pyatt die Staatsanwaltschaft aufgefordert, auch vor einflussreichen Leuten nicht Halt zu machen. Der Vorsitzende der Fraktion des Block Petro Poroschenko im Parlament, Jurij Luzenko, kündigte an: »Die kommenden Tage werden eine Antwort darauf geben, ob die politischen Führer fähig sind, real das oligarchische System in ein europäisches zu verwandeln.« Dabei solle jedoch ein »Hauskrieg« vermieden werden. Den Einschätzungen des Politologen Kostjantyn Bondarenko zufolge hat Poroschenko hinsichtlich des Minsker Friedensplanes dabei keine Wahl, er müsse gegen die Militanten und ihre Unterstützer vorgehen. Sonst drohe ihm bei der Umsetzung auf kurz oder lang ein Putsch. »Die Ukraine wird von einer harten Diktatur der rechten Kräfte bedroht, einer solchen Diktatur, bei der nicht mehr nur die Separatisten, sondern auch Merkel und Hollande rufen werden: ›Putin, schick Truppen!‹«, warnte er bereits vor den Wahlen. Bis Ende des Jahres, wenn das Minsker Abkommen ausläuft, benötigt die Regierungsfraktion für die zweite Abstimmung über die Verfassungsänderungen 300 Stimmen im Parlament. Bei der ersten Abstimmung am 31. August fanden sich nur 265 und mit der Verhaftung von Korban hat sich Poroschenko unter den Abgeordneten von Ukrop keine Freunde gemacht. Der Regierung bleiben weniger als zwei Monate.