Das neue Buch von Charlotte Roche: »Mädchen für alles«

Mit Melonen auf Schwangere schießen

In Charlotte Roches neuem Roman »Mädchen für alles« geht es um Obst, Coolness und »Regretting Motherhood«. Unsere Autorin Jacinta Nandi fühlte sich bei der Lektüre mal an »Schoßgebete«, mal an ein Kinderbuch und mal an »Shades of Grey« erinnert.

Wahrscheinlich macht es wenig Sinn, dass ich über Charlotte Roche schreibe, ohne zu erwähnen, dass ich mit ihr verglichen werde, seit ich auf Deutsch schreibe. Die, die meine Texte mögen, sagen dann: »Wie Charlotte Roche, nur sozialkritischer!« Und die, die meine Texte nicht mögen, sagen immer: »Wie Charlotte Roche, nur noch ekliger!« Oder manchmal: »Das ist Charlotte Roche für Arme.«
Nicht nur wegen dieses Vergleichs war ich immer fasziniert von diese Frau und dem, was sie schreibt. »Feuchtgebiete« versuchte ich zu lesen und gab es sehr schnell auf. Ich fand es sehr eklig – obwohl eine Quelle des Ekels ein sprachliches Missverständnis die Worte »Klobrille« und »Klobürste« betreffend war. Aber ich habe das Buch nicht aufgegeben, weil es mir zu eklig war, sondern weil es mich wahnsinnig wütend gemacht hat. Niemals zuvor oder danach hat es ein Buch geschafft, mich so wütend zu machen (Sarrazin, spüre dieses Diss). Grund war die Ich-Erzählerin, die 18jährige Helen, die von ihrer Mama verlangt, dass diese mit ihrem Vater verheiratet bleibt, also im Gefängnis einer unglücklichen Ehe verharrt, während sie sich selbst die Freiheit erlaubt, mit Avocadokernen aus der Muschi zu schießen. Was für eine Kanone! Diese Doppelmoral hat mich sehr wütend gemacht: Die Mama, also die ältere Frau, hat keine Freiheit verdient, aber die Tochter, die jüngere Frau, kennt keine Grenzen. Ich war so entsetzt, dass ich das Buch gegen die Wand geschmissen habe wie die Prinzessin den Frosch im Märchen.
»Schoßgebete« verschlang ich dann ein paar Jahren später an einem Samstagabend. Mein Sohn schlief und ich las das Buch im Bett bei einer Flasche Wein in einem Rutsch. Ich liebte es: die sterile Sprache, der sterile Blowjob, die sterile Liebe, der sterile Autounfall, das verbrannte Hochzeitskleid. Die leere Hoffnungslosigkeit des Lebens dieser jungen Frau und aller jungen Frauen, die Männern gefallen wollen.
»Feuchtgebiete« habe ich gehasst, »Schoßgebete« geliebt. Aber Charlotte Roches neuen Roman »Mädchen für alles«, die Geschichte ­einer reichen, ziemlich unsympathischen Frau namens Chrissi, die ihren Mann verachtet, die ihre Tochter nicht liebt, die seriensüchtig ist, die zu viel trinkt und sich immer bemitleidet, und sich dann in das Kindermädchen verliebt, habe ich weder gehasst noch geliebt. Ich habe es, wenn ich ehrlich bin, einfach ein bisschen langweilig gefunden.
Das Buch ist kindisch geschrieben, es hat den Stil eines dieser deutschen Kinderbücher, in denen ein Kind Angst hat vor dem Kindergarten oder dem Zahnarzt, nachts nicht schlafen kann und von der Mama Kakao oder Tee gekocht bekommt. Lustiger als die ersten zwei Romane ist es aber schon, manche Bemerkungen von ­Chrissi sind tatsächlich böse, wahr und ziemlich lustig: Als sie sieht, wie die Babysit­terin sich die Lippen übertrieben nass ableckt, denkt sie: »Voll abgeguckt im Porno, denke ich, aber was nicht? Der Porno hat sich ja alles beim echten Leben abgeguckt und übertrieben, und jetzt übertreiben wir das echte Leben, weil wir alles vom Porno abgucken.« Und jetzt, wenn wir beim Pornoabgucken sind: Chrissi spricht immer mit sich selbst, genau wie Ana in »50 Shades of Grey«. Und genau wie in »Shades« nervt es ein bisschen.
Aber Chrissi ist als Figur viel interessanter als Ana – weil man nie sicher ist, ob sie nicht doch psychopathisch ist. Als wir Chrissi zum ersten Mal begegnen, ist sie sauer, weil ihr Schwager eine Geburtstagsparty in ihrem Haus feiert. Den Gästen serviert sie wodkagefüllte Wassermelone, auch den zwei Hochschwangeren. Warum macht die Erzählerin das? Ist es ihr egal, dass die ungeborenen Babys besoffen werden? Oder hat sie gehört, dass Schwangere das Obst wegen der ganzen Keime nicht essen sollen? Und legt sie es deshalb darauf an? Hat Charlotte Roche vor, uns mit ihrer unmoralischen Erzählerin voll zu schockieren? Ich war und bin unsicher.
Roche hat ein Talent dafür, unsympathische Protagonistinnen zu entwickeln. Mit Christine »Chrissi« Schneider hat sie es sogar geschafft, eine Person zu zeichnen, deren psychopathische Züge das Menschlichste an ihr sind. Wenn sie nicht gerade mehr oder weniger psychopathisch ist, ist sie immer selbstmitleidig, passiv-aggressiv und ziemlich überheblich. Unglaubwürdig in diesem Buch ist die halbherzige Regretting Motherhood-Anspielung. Wahrscheinlich ist es ein bisschen unsolidarisch von mir, aber meiner Meinung nach ist es Roche überhaupt nicht gelungen, die Gefühle einer Frau darzustellen, die ihre Mutterolle ablehnt. Mutterschaft als Gefängnis, das eigene Zuhause als Isolationshaftzelle, wie ein Tier in der Falle zu sitzen – nichts davon ist rübergekommen. Stattdessen kam es mir so vor, als ob die Autorin beziehungsweise die Erzählerin nur deshalb mit der Idee von Mutterschaftsablehnung spielt, weil es als unoriginell, öde und einfach uncool gilt, das eigene Kind zu lieben.
Ich bin auch nicht sicher, ob ich wirklich glauben kann, dass sich Chrissi in das Kindermädchen verliebt hat oder ob sie überhaupt Marie nur ein kleines bisschen lesbisch begehrt, aber das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich immer unsicher bin, ob die Frau Psychopathin ist oder nicht.
Es kommt zu einem ziemlich enttäuschenden Ende und einem Erzähltrick, der bei uns in der Junior School von der Klassenlehrerin in der dritten Klasse noch strenger verboten wurde als das Rennen mit Scheren.
Aber obwohl es einem schwerfällt, sich mit der Figur der Chrissi zu identifizieren, obwohl das Buch teilweise sogar langweilig ist, obwohl ich enttäuscht war: Es ist einfach unmöglich, total indifferent bei einem Roman von Roche zu bleiben. »Mädchen für alles« ist kein Roman, der fesselt, dafür aber trotzdem schon einer, der es unter die Haut schafft.

Charlotte Roche: Mädchen für alles. Piper, München 2015, 240 Seiten, 14,99 Euro