Ehemalige GIs in Wiesbaden

»I’ll be the same«

Michael und Steven sind als US-Soldaten noch während des Kalten Krieges ins Rhein-Main-Gebiet gekommen. Nach ihrer Dienstzeit haben sie sich entschieden, dort zu bleiben. Doch die Army zu verlassen, heißt noch lange nicht, unabhängig zu sein.

»Come to my house!« sagt Steven und geht langsam voran. Sein Haus ist ein Zimmer in einer Vierer-Männer-WG im Taddäus-Obdachlosenheim in der Mainzer Oberstadt. Er hat am frühen Nachmittag bereits eine Alkoholfahne, die einem nicht nur mit seinem Atem entgegenweht. Die WG-Küche neben seinem Zimmer ist unpersönlich sauber, kein Teller, keine Tasse steht herum, die Putzregeln werden streng befolgt. Die Einrichtung des Zimmers besteht aus alten, billigen Möbeln. Die Regale der lackierten, haselnussbraunen Schrankwand sind leer. Der Fernseher und die Vorhänge an den Fenstern sind ihm wichtiger.
Steven ist 52 Jahre alt, geboren und aufgewachsen mit fünf Geschwistern und alleinerziehender Mutter in Harlem, New York. Er ging aufs College, brach das Studium aber nach zwei Semestern ab, weil er es sich nicht mehr leisten konnte und Geld verdienen wollte. Er jobbte hier und da, bis er auf eine Army-Werbung aufmerksam wurde, die ihm interessant erschien. Er verpflichtete sich, absolvierte die Grundausbildung und wurde nach Europa versetzt. »Auf dem Ticket stand FROG und ich wusste nicht, was das bedeutet.Vielleicht Frankreich, dachte ich. Doch es war nicht Frankreich, wo ich landete, sondern Frankfurt. Federal Republic of Germany – FROG«, erinnert er sich. So wurde er 1984 als 21jähriger »blind like a baby cat« in die BRD geschleudert.
Heute wollte sein Kumpel Michael eigentlich auch vorbeikommen, doch er taucht trotz mehrmaliger Anrufe nicht auf. Auch ein paar Tage später in der New Hope Baptist Church in Wiesbadens Südosten lachen sie ungläubig, wenn sie hören, dass Michael eigentlich kommen wollte.
Der Gottesdienst beginnt um halb neun am Sonntagmorgen. In dem kleinen Gemeinderaum ganz ohne religiösen Schnickschnack haben sich neun Leute eingefunden. Fast alle sind Afroamerikaner, derzeitige oder ehemalige US-Soldaten. Bis auf Karin und ihren Lebensgefährten, die rechts neben dem Pult sitzen, das hier die Kanzel ist.
In der ersten Reihe vor diesem Pult sitzt Familie Brown, und dass sie dort als Familie in der ersten Reihe sitzt, macht sie ein bisschen zu den Vorzeigegemeindemitgliedern. Die Mutter im Offiziersrang, der Vater Lehrer an einer Schule der Wiesbadener military community, rangniedriger als seine Frau. Das ist immer noch selten. Die 13jährige Tochter Talisha geht auf eine amerikanische Schule. Sie darf heute zum ersten Mal nach vorn und etwas vortragen, nervös, aber herzlich hält sie ihre kleine Rede vor der kleinen Gemeinde. Dann macht Pfarrer Joseph L. Freeman Jr. mit seiner Predigt weiter, alles in englischer Sprache. Seine Ausführungen werden häufig durch ein bestätigendes »Eymen« unterbrochen. Dabei tun sich vor allen Karin und Mr. Johnson hervor, der beim warm-up, das heute aus dem gemeinsamen Lesen der Jakobsgeschichte bestand, schon besonders eifrig vor sich hin murmelte. Hinter einer Mutter mit einem Baby auf dem Schoß sitzt auch noch Mr. Black und stützt sich müde auf seinen Gehstock, als es darangeht, sich zu erheben. Die Hostie wird in kleinen Plastikbecherchen verteilt, wie man beispielsweise Kaffeesahne in einer Bäckerei bekommt. An der Unterseite des Deckels klebt eine klitzekleine Oblate, darunter ein kleiner Schluck blutroter Flüssigkeit. Talisha sammelt dann den Plastikmüll wieder ein.

Nach dem Gottesdienst geht’s gemeinsam zum Brunch in die American Sports Bar in der Wiesbadener Innenstadt, das macht die Gemeinde einmal im Monat. Den Zusammenhalt fördern soll auch eine Reise in einen Erlebnispark in Belgien, die Karin nun vorschlägt, was von den anderen eher reserviert als enthusiastisch aufgenommen wird. Doch dann finden die standardisierten Bungalows und typischen Erlebnis-Karussells bei den Soldaten und Exsoldaten doch recht regen Anklang. In der Sports Bar hängen Hunderte Porträts von US-amerikanischen Footballspielern an den Wänden, auf einem großen und vier kleinen Flachbildschirmen läuft ein College-Footballspiel, die neue NFL-Saison hat noch nicht begonnen.
Die Gemeindemitglieder sprechen auch hier die ganze Zeit Englisch, keiner von ihnen kann Deutsch. Auch Talisha nicht, der Deutschunterricht in der amerikanischen Schule bringe ihr bisher nicht viel, sagt sie.
Karins aus Ostdeutschland stammender Lebensgefährte hingegen weigert sich hartnäckig, Englisch zu sprechen – vielleicht kann er es auch nicht so gut. Er murrt: »Die leben schon so lange in Deutschland, dann sollen sie auch Deutsch sprechen.« Er sagt das nur am Rande, die Amerikaner kümmern sich nicht darum.
Am Nachmittag dieses Sonntags steigt noch ein Grillfest im Goethe-Park, am Rande der Mainzer Neustadt. Hier trifft sich die ganze Community, fast alle ehemalige US-Soldaten. Auch ein paar Deutsche sind da, einige schauen sich das Treiben ein bisschen vom Rand an, bevor sie sich vielleicht doch entscheiden, grilled chicken oder Hamburger zu essen.
Die einzigen Deutschen, die sich so richtig unter die Amerikaner mischen, sind ein paar nicht mehr ganz junge Frauen. Teilweise ausgelassen genießen sie die Aufmerksamkeit der ehemaligen Soldaten. Früher wären sie wohl »Amibräute«, auch »Veronikas« genannt worden.
Und wo Frauen sind, ist Michael nicht weit. Er hat das Fest mitorganisiert, »deshalb konnte ich heute nicht in die Kirche gehen«, sagt er ernst. In einem schon etwas zerschlissenen himmelblauen Hemd und mit einer grauen Dockarbeitermütze schräg auf dem Kopf sieht man ihm seine 60 Jahre nicht an. Er begrüßt ständig Leute und flirtet mit den deutschen Frauen. Er ist überall auf dem Fest anzutreffen.
Irgendwann kann er sich für eine halbe Stunde losreißen und erzählt bei seinem nächsten Gin and Juice, dass seine Entscheidung, zur Armee zu gehen, viel damit zu tun hatte, das »wilde Tier in ihm« zu bändigen. »Wenn du zu viel Energie hast, dann ist die Armee das Richtige«, sagt er. Und so verpflichtete er sich 1975 und machte eine Ausbildung zum »Nuclear Weapons Maintenance Specialist«. Dann habe er jedoch den für die Ausübung dieses Berufs notwendigen Sicherheitspass nie erhalten und musste auf Radartechnik umschwenken. Das war vielleicht schon die erste Erfahrung mit dem, was er hidden racism in der Army nennt. Im Laufe seiner Dienstzeit sollte noch mindestens ein weiteres Erlebnis dieser Art folgen. Zehn Jahre hat er gedient und »Radar gemacht«, 1976 kam er nach Deutschland. Er sei immer wieder überall auf der Welt eingesetzt worden, näher will er darauf aber nicht eingehen. Zeitweilig wollte er Pilot werden, doch man ließ ihn wieder nicht. Trotz des »special program for minorities« und der Ausbildung, die er erfolgreich bestand – das letzte Wort hat der Commander. »Und der sagte: ›Nein. Wenn du Pilot wirst, wollen das andere Schwarze vielleicht auch‹«, erzählt Michael. Und fügt hinzu: »Ich kann nichts dagegen machen.«
Daraufhin wollte er nicht mehr in der Army bleiben. »Ich war solo, hatte keine Kinder. Ich schaffe das, alleine zu leben. Oder ich gehe zurück nach Texas. Aber um diese Zeit fand ich Deutschland schön, ich hatte viel Spaß und so bin ich geblieben«, sagt er über die Zeit um 1987. Nun hat er eine siebenjährige Tochter. »Gestern bekam ich a fuckin’ letter from the Jugendamt. Ab Oktober ich muss 387 Euro Unterhalt im Monat für Jackie-Lou bezahlen.« Und wieder: »Ich kann nichts dagegen machen.« Wegen Jackie-Lou ist er noch hier. Auch das Geld für sie erarbeitet er hart, mit Schichtdiensten bei UPS und wohl noch ein paar Geschäften nebenbei. Manchmal schlafe er nur zwei Stunden, sagt er. Und: »I’m strong, I’m 60 years old, I’m healthy, man.«

Mittlerweile ist auch Pfarrer Freeman auf dem Grillfest erschienen. Er bleibt ein paar Stunden, leicht auf seinen Gehstock gestützt, auf einem Fleck der Wiese stehen und wartet, wer sich zu ihm gesellt. Und nach und nach kommen sie auch zu ihm, die verlorenen Schafe und die ehemaligen Kameraden.
Gelassen interessiert blickt er aus seinen hellblauen Augen durch die Brille hindurch auf das Treiben. Pfarrer Freeman erzählt, dass er früher bei der Air Force war, doch das sei schon lange her. Er ist schon weit über 60 und da er nach über 30 Jahren in Deutschland die Sprache immer noch nicht spricht, sei das sein Ziel für die Zukunft. »I want to learn the German language that I better understand the things that happen here«, sagt er.
Im Rücken des Pfarrers und am Rande des Festes drückt sich eine Gruppe um eine große Kastanie herum. Hier riecht es nach Gras und die Typen sehen allesamt nicht mehr ganz so frisch aus, dabei ist es erst Nachmittag. Unter ihnen ist auch Steven. Er hat seine weiße, undurchsichtige Plastikflasche dabei, die wohl Schnaps enthält. Das Saufen ist kein Genuss mehr wie damals bei der Army, als es anfing. 1989 trat er dann aus, weil er sich hier mit seiner damaligen deutschen Frau und deren kleiner Tochter ein eigenes Familienleben aufbauen wollte. Beim Militär war Steven »communication specialist«, wartete und reparierte vor allem die Walkie-Talkies.
Das war zwar ein fester und auch guter Job, doch dort spürte er auch jeden Tag die Unmündigkeit. »Wenn du in die Army eintrittst, gibst du alle deine zivilen Rechte ab«, sagt er bitter. »Die Army hat eine eigene Verfassung, du hast keine individuellen Rechte mehr. Die können dich überall auf der Welt einsetzen, sie übernehmen dich mit Haut und Haaren. Deshalb steht auf deiner Uniform dein Name auch auf der rechten Brust. Auf der linken, wo das Herz ist, steht das US-Army-Logo.« Er wollte raus, doch er hatte keinen Beruf gelernt und konnte nur Hilfsarbeiterjobs machen. Mit der Frau lief es auch nicht gut. Nach der Scheidung habe der Alkohol dann richtig durchgeschlagen, erzählt sein Freund Michael später. Steven selbst macht seine Abhängigkeit nicht zum Thema, er verliert sich lieber in der Vergangenheit. Und aus der entstehen schöne wie schlimme Erinnerungen. Zu seiner Stieftochter habe er ein sehr gutes Verhältnis gehabt, sich um sie gekümmert und von ihr viel zurückbekommen. Seine Exfrau allerdings habe ihm gar nichts gedankt. Eines Tages traf er die Vermieterin im Haus und die sagte ihm, dass die Miete noch nicht bezahlt sei. Er ging hoch zu seiner Frau, die das Geld, das er erarbeitete, verwaltete und auch die Miete immer überwies. Doch dieses Mal hatte sie es einem anderen gegeben, einem ihrer Liebhaber. »Ich war kurz davor, einen Fehler zu machen. Ich wollte sie töten. Doch in dem Moment klingelte das Telefon und meine Mutter war dran«, erzählt er. Es war einer der sehr seltenen Anrufe aus Harlem, New York, und er verhinderte in diesem Moment, dass etwas Schlimmes passierte. Daraufhin sperrte er seine Frau ins Bad, um Abstand von ihr und der Situation zu bekommen, und rief selbst die Polizei. Als die kam, erklärte er den Polizisten alles und die rieten ihm, erst mal für eine Weile woanders zu wohnen. Das war’s dann endgültig mit dieser Ehe. Er versuchte, sich allein durchzuschlagen, auch den Kontakt zu seiner Stieftochter zu halten. Doch er bekam dabei kaum Unterstützung. Auch seine Mutter in Harlem sagte nun bei einem ihrer wenigen Telefonate, als er von »seiner Tochter« sprach und zu seiner Mutter sagte, sie sei ja auch »ihre Enkelin«: »Ich habe keine Enkelin.« Als der erste Schmerz nicht mehr so schlimm war, dass er ihn sprachlos machte, sagte Steven zu seiner Mutter: »Wenn du keine Enkelin hast, hast du auch keinen Sohn mehr.« Seitdem ist der Kontakt völlig zusammengebrochen.

»Typisch amerikanisch«, behauptet Michael, Steven sei selbst schuld an seiner Lage. Zum Beispiel verschaffte er ihm über einen deutschen Bekannten eine Ausbildung in einer großen Metzgerei. Doch Steven hielt nicht lange durch, der Suff machte ihm das frühe Aufstehen und schnell die ganze Arbeit zur Qual. »Er hätte um vier Uhr morgens aufstehen müssen, doch da kam er erst nach Hause«, erzählt Michael.
Dabei sei Steven intelligenter als er, sagt Michael weiter. »Er hat einen IQ von 123. Und er ist im Kopf immer noch fit. Er löst die Kreuzworträtsel in der Bild – ich kann das nicht.«
Man könnte meinen, dass sich Steven, auch sprachlich, mehr in die deutsche Gesellschaft integriert hat als Michael – wenn auch mittlerweile in der untersten sozialen Schicht. Zum Preis anderer Abhängigkeiten hat er sich doch weitgehend von den militärischen Dogmen befreit, durch die er sich seiner Persönlichkeit beraubt sah. Michael hingegen zehrt bis heute von der beim Militär erlernten Disziplin. Umgekehrt sind es aber auch familiäre und religiöse Werte, die ihm im Gegensatz zu Steven mitgegeben wurden und die er auch angenommen hat.
Als er 2008 schon alles für seine Rückkehr nach Texas organisiert hatte – er wollte sich dort niederlassen, ein Haus bauen –, erzählte ihm eine seiner deutschen Freundinnen, dass sie schwanger sei. Michaels Reaktion war: »Ich wollte nicht mein einziges Kind hier liegen lassen. Wenn ich abgehauen wäre, sie einfach hiergelassen hätte, wäre ich nicht in ihrem Leben. Das wollte ich nicht machen. Mein Vater ist nicht von uns abgehauen und deswegen bin ich auch nicht abgehauen von Jackie-Lou. I have a child – it was God’s will.«
Er hat sie schon vier Mal mit nach Texas zu seiner Familie genommen und erzählt stolz, dass sie drei Sprachen spricht: »German, English and Spanish.« Das sei in Texas wichtig, sagt er. Er hätte dort auch Deutsch lernen können, doch er habe ja nicht gedacht, mal nach Deutschland zu gehen. Hier angekommen, musste er die Sprache von Grund auf lernen – schon allein wegen der Frauen, sagt er. Im hessischen Büdingen, wo er zuerst stationiert war, gab es keine weiblichen Soldaten. »Die einzigen Frauen gab es in der Stadt, und um mit ihnen Sex zu haben, musste man Deutsch können«, erklärt er. Und so lernte er das Wesentliche dieser Sprache in seinen Mittagspausen. Ein Kumpel gab ihm dabei hilfreiche Tipps: »Ich konnte nicht ›auf Wiedersehen‹ aussprechen. Ein Kumpel brachte mir bei, stattdessen ganz schnell ›I’ll be the same‹ zu sagen. Das war ein guter Trick.«
Während es bei Michael, seinen Schilderungen zufolge, mit den Frauen immer noch gut klappt, ist bei Steven diesbezüglich nicht mehr viel los. Die Diabetes und der Alkohol haben ihn im Griff, vor zwei Jahren hat ihm auch noch eine Borreliose-Infektion durch einen Zeckenbiss zugesetzt. Er ist viel zu spät zum Arzt gegangen und musste operiert werden, einen Hoden haben sie ihm entnommen und das rechte Bein ist nicht mehr das alte. Seitdem wohnt er im Thadäus-Heim, es gab keine andere Möglichkeit mehr. Hier arbeitet er ein paar Mal die Woche in der Küche und bekommt täglich zehn Euro ausgezahlt. Manchmal ruft er Michael an, auch vormittags, und bittet ihn, ihm einen Drink vorbeizubringen. Der trinkt auch gerne mit, hat es aber anscheinend einigermaßen im Griff.
Steven erinnert sich an die Zeiten bei der Army, als sie alle noch viel Geld in der Tasche hatten. »Ein Dollar zu vier D-Mark! Wir waren reich.« Jetzt sitzt er in seinem Zimmer im Thadäus-Heim und erzählt von der Krähe, die allmorgendlich an sein Fenster kommt und sich kleine Leckereien von ihm geben lässt.
Die Frage, warum er in Deutschland geblieben und nicht zurück in die USA gegangen ist, erübrigt sich bei seiner Lebensgeschichte fast. Dennoch beantwortet er sie: »Selbst Obamacare ist gegen das deutsche Sozialsystem ein Witz.«