Würdigung des verstorbenen Philosophen André Glucksmann

Der Renegat

Der Philosoph André Glucksmann ist mit 78 Jahren gestorben.

Als der französische Philosoph André Glucksmann 1975 mit der Veröffentlichung seines Buches »Die Köchin und der Menschenfresser« publizistisch mit dem Marxismus brach, lagen bereits fast zwei Jahrzehnte in der Linken hinter ihm. Erst die Lektüre von »Der Archipel Gulag«, Alexander Solschenizyns Buch über das sowjetische Lagersystem, hatte ihm die Augen geöffnet und seinen Traum von einer kommunistischen Revolution in Frankreich endgültig zunichte gemacht. Glucksmann wurde in Frankreich zum Inbegriff des Renegaten. Fortan zählte er zusammen mit Bernard-Henri Lévy zu den sogenannten Neuen Philosophen, die sich nicht mit der akademischen Liebe zur Weisheit zufriedengaben, sondern in der französischen Tradition des engagierten Intellektuellen öffentlichkeitswirksam Position bezogen. Glucksmanns Prinz-Eisenherz-Frisur wurde zu seinem Markenzeichen wie das offene weiße Hemd für Lévy.
Glucksmann kam 1937 in einem Vorort von Paris zur Welt. Seine Eltern waren osteuropäische Juden, die als linke Zionisten zunächst nach Palästina ausgewandert waren und nach dem Sieg Hitlers als Widerstandskämpfer nach Deutschland gingen. Später flohen sie nach Frankreich. Sein Vater starb 1940 beim ­Beschuss des Schiffes »Arandora Star« durch ein deutsches U-Boot, Glucksmann selbst war zusammen mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern in einem französischen Lager interniert und entging nur knapp der Abschiebung nach Deutschland. Den Krieg überlebte er in Verstecken. Später studierte er Philosophie und war Assistent von Raymond Aron. An den Protesten im Mai 1968 beteiligte er sich aktiv und schloss sich den Maoisten an, was er später bereute. Treu blieb er aber einem idealistischen und aktivistischen Politikverständnis. So verteidigte er Anfang der Achtziger in seiner Schrift »Die Philosophie der Abschreckung« die atomare Bewaffnung, unterstützte später die militärischen Interventionen in Jugosla­wien, im Irak sowie in Libyen und machte sich für die Präsidentschaftskandidatur Nicolas Sarkozys stark. Das machte ihn vor allem bei der französischen Linken noch unbeliebter.
Ideengeschichtlich sah er sich stets der Aufklärung, den Menschenrechten und der Freiheit verpflichtet, ohne ins identitäre Geschwafel eines Alain Finkielkraut zu verfallen. Er schrieb viel, aber ein großer Wurf gelang ihm nicht mehr. Glucksmann ist am Dienstag voriger Woche im Alter von 78 Jahren in Paris gestorben.