Der Musiker Knarf Rellöm macht aus alten Forderungen neue

Der Weltraum ist die DDR

In seiner jüngsten Inkarnation konzipiert der Hamburger Musiker Knarf Rellöm alte Forderungen neu.

Frank Möller wuchs in den siebziger Jahren im norddeutschen Dithmarschen heran. Einer Gegend mit vielen Äckern und Wiesen, auf denen Kühe und Atomkraftwerke in meist friedlicher Koexistenz nebeneinander herumstanden. Ab und zu tauchten Demonstrantinnen und Demonstranten in Begleitung von Polizei, Wasserwerfern und Fernsehberichterstattern auf. Hatten die sich zurückgezogen, war wieder so viel los wie in einem lang nicht mehr betretenen Geräteschuppen.
Manchmal konnte es aber doch passieren, dass sich ein Floh ins Ohr eines jungen Menschen wie Möller setzte, um ihm Stichwörter zuzuhusten. Eines hieß »Disco«. Möller entdeckte, wie viel Vergnügen ihm seine schlackernden Arme und Beine bereiten konnte, und gewann mit ihnen in seinem Herkunftsdorf Tanzwettbewerbe. Dann raunte der Floh etwas von »Punk«. Daraufhin legte sich Möller seltsame Frisuren zu, trug Jacken mit der Aufschrift »Gott AG« und beendete alte Freundschaften. Die Rechte von Erziehungsberechtigten verschwommen so schnell und selbstverständlich wie schlechtes Make-up im Regen. Selbst, wenn sie direkt vor einem standen, wirkten Mutter und Vater weit entfernt. Möller erlebte stattdessen Männer, die sich aufregten wie Witzfiguren, und Frauen, die aus Klugheit heulten.
Als die Schulzeit in den achtziger Jahren endet, zieht er nach Hamburg um. Sechs Wochen nach seiner Ankunft tritt er als Sänger mit der Band »Electric China« auf. Aus eher experimentellem Interesse nimmt er an Literaturseminaren im sogenannten Philosophenturm der Universität Hamburg teil. Er liest Nicolas Born und freundet sich mit dem Musiker Ted Gaier an. Mit Sonny Motor, dem Gitarristen von Electric China, und der Schlagzeugerin Claudia Bollig gründet er die Band Huah! und nimmt zwei Alben für das Label L’âge d’or auf. Um bei der Anmeldung bei der Gema eine Verwechslung mit Namensvettern auszuschließen, erinnert sich Möller an das Schülerspiel, Begriffe um­zudrehen. Von nun an nennt er sich Knarf Rellöm. Er beweist Witz und Schneid, was etliche Musikerkolleginnen und Musikerkollegen die Nähe zu ihm suchen lässt. Für nicht wenige entwickelt er sich zu einer männlichen Muse – man will ihn zu fassen kriegen, sei es als Mitbewohner oder als Support-Act der Goldenen Zitronen auf Touren, sei es als Portraitmotiv auf dem Cover einer Single von Blumfeld.
Dabei scheint Rellöm die Musik noch nicht mal besonders wichtig zu nehmen, um sich ihrer Möglichkeiten dennoch gekonnt zu bedienen. Auf Bühnen kann er unmöglich aussehende Trainingsanzüge passabel erscheinen lassen. Mit Bernadette La Hengst und Rebecca »Nixe« Giese macht er sowohl bei Huah! als auch in anderen Formationen bis heute Musik. In Gesprächen mit Journalisten kann er so humorvoll respektlos antworten wie die Beatles 1964 bei der Ankunft in den USA. Mit Rocko Schamoni initiiert er die Boutique Idiot, aus der sich später der Golden Pudel Club entwickelt. Bei Veranstaltungen des Goethe-Instituts übernimmt er in hitzigen Debatten mit manch einem Rocker-Heißsporn die Rolle eines klugen Deeskalierers. Und ob er redet oder Musik macht, auf der Bühne etwas ansagt oder in Unterhaltungen eine Bemerkung fallen lässt, immer wirkt es leicht bis zauberhaft leicht. Knarf Rellöm wäre ohne Mühe in der Lage, Punk etwa in der »Sesamstraße« zu erklären und dadurch auch noch Zuschauerquoten zu steigern. Durchaus auch mit einem Blick für Strukturprobleme, die er singend so beschrieben hat: »Wenn ich mich so umsehe, sehe ich nur Bands mit Jungs. Wann gibt es eine Veränderung?«
Die Leichtigkeit umfängt den Hörer auch, wenn er Knarf Rellöms jüngste Platte »Es ist die Wahrheit, obwohl es nie passierte« abspielt: »Warum muss die Liebe in jedem Einzelfall das Größte sein/Geht es nicht bescheidener als the greatest love of all times/Können wir die Liebe nicht so konzipieren, dass sie für alle erreichbar ist/Holt sie vom Himmel/Vergesellschaftet die Liebe«.
Die Liebe konzipieren. Als Rellöm damals Disco und Punk entdeckte, war »Konzept« eines der Worte des Jahrzehnts. Ob John Lennon sang »God is a concept« oder die Rote Armee Fraktion ihr »Konzept Stadtguerilla« an Zeitungsredaktionen verschickte, das »Konzept« bedeutete für Linke so viel wie die Wunderlampe für Aladin. Es handelte sich um nicht weniger als ein Instrument, das Wünsche erfüllt, einen Standpunkt veredelt, einen Kampf schick aussehen lässt und mit Siegeszuversicht ausstattet. Einen solch verführerischen Duft wie der Begriff des »Konzepts« verbreiteten erst in den achtziger Jahren wieder die vielbesprochenen »Strategien« und in den neunziger Jahren die weit lässiger erwähnten »Zusammenhänge«, in denen Leute »unterwegs« waren.
Rellöm schafft es nun zusammen mit Viktor Marek und DJ Pattex, eine Reihe linker Forderungen neu zu konzipieren. Die Liebe kann ihren Utopiecharakter ablegen wie eine unvorteilhafte Hose oder ein schlecht sitzendes Kleid. Sie muss gewisse Lieder nicht zu Schwarten machen. Sie braucht kein Dasein als unlösbares, Neurosen verursachendes Rätsel zu fristen. Es ist nicht einzusehen, dass sie ihre überwältigende, jede Alltagstauglichkeit unterbrechende Kraft behält und dabei nicht doch auch »erreichbar« bleibt, in dem Sinn, wie man im Internet »Zugang« bekommt.
Um diese Forderungen auch durchzusetzen, nennt Rellöm ebenfalls ein Mittel, das aus der Zeit kommt, als David Bowie vom Himmel fiel und Sun Ra in dem Film »Space is the Place« auf anderen Planeten landete: »Es war einst ein Mensch, der fühlte sich matt/Der hatte sein Dasein als Mensch so satt/Überlegte sich, dass er was anderes wäre/Zum Beispiel Außerirdischer«.
Zum Beispiel nicht von hier sein. Der Blues des modernen Menschen, der nicht da ist, wo er sich aufhält. Der Entfremdete, der mit seiner Entfremdung etwas anfangen und sie genießen will. Auch, um Musik daraus machen zu können. Dass das immer wieder auch einen Verlust an Rennommée und die robuste und dringende Aufforderung nach sich zieht, gefälligst nicht aus der Reihe zu tanzen, unterschlägt der Text nicht: »Du, du Weltraumkasper, ha ha ha/Jetzt sei mal still, hier auf der Erde/Kann jeder machen, was er will/Aber Kritik tun wir uns verbeten/Geh doch nach drüben auf deinen Planeten«.
Die Schwierigkeiten beim Kunstmachen sind die gleichen geblieben, auch nach fast 30 Jahren Arbeit. Wer Musik macht, ist per se skurril, schrullig und sollte seinen Wohnort bitte nicht in der Nähe der Zivilisation wählen. Wer es doch tut, der bekommt die Vorwürfe in genau dem Ton und so sicher wie das Amen in den Kirchen der Bundesrepublik Deutschland zu hören. Also dort, wo die Möglichkeit, »nach drüben« zu gehen, seit 25 Jahren nicht mehr gegeben ist. Darüber von Knarf Rellöm einen Witz auf Platte präsentiert zu bekommen, ist schon ein großes Vergnügen. Der Weltraum ist die neue DDR. Knarf Rellöm produziert anregende Gedanken. Und einer davon soll deshalb auch das letzte Wort behalten: »Ich würd’ so gern auf der Bühne stehen/Mysteröse Geschichten erzählen/Ich wäre so gern wie du«.

A Tribe Called Knarf: Es ist die Wahrheit, obwohl es nie passierte (Staatsakt/Universal Music)