Spurensuche mit einer Überlebenden im einstigen Warschauer Ghetto

»Ich habe früh gelernt, keine Angst zu haben«

Vor 75 Jahren ließ die deutsche Besatzungsmacht eine Mauer um das jüdische Ghetto in Warschau bauen. Nur wenige Einwohner überlebten diese Zeit. Barbara Góra ist eine von ihnen. Sie begab sich auf Spurensuche in den Straßen ihrer Kindheit.

Heiß und stickig war es in ihrem Versteck. Massenhaft dicke Pelze, die so auf den Körper der kleinen Barbara drückten, dass sie gerade so Luft bekam. Zu atmen wagte sie ohnehin kaum. Völ­lige Stille. Dann die grelle Stimme, die bis ins Mark drang: »Hochberg!« Barbara zuckte zusammen, kniff die Augen zu und hoffte. »Sind hier Juden?« rief die Stimme, diesmal lauter. Dann ein Schuss. Ein zweiter. Keines der Kinder, die sich im Lager der chemischen Reinigung versteckt hatten, machte einen Mucks. Unerträgliche Angst. Und doch hielten sie still. So lange, bis die drohenden Schritte der Wehrmachtssoldaten sich entfernt hatten.
75 Jahre später weht der eisige Wind der nun 83jährigen Barbara Góra ins Gesicht. Keine 20 Meter von der Stelle, an der die noch heute jugendlich wirkende kleine Dame um Haaresbreite der Deportation entkam, späht sie durch einen Zaun und klammert sich daran fest. Sie muss ihren auffälligen weinroten Hut festhalten. Sie hüllt den knielangen blauen Mantel enger um ihren Körper. »Dort drüben«, sie deutet durch die Gitterstäbe auf eine monumentale Ruine, »das ist Pawiak.« Das Gefängnis gegenüber der Straße, in der Góra einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Seit dem Welttreffen der jüdischen Organisation »Gesellschaft der Kinder des Holocaust« im Jahr 2011 war sie nicht mehr an diesem Ort. Er erinnert sie an Erschießungen, die nächtlich zu hören waren. An Schreie. An Angst? »Nein«, sagt sie, »ich habe früh gelernt, keine Angst zu haben. Nur so haben wir überlebt.«

Vor dem Krieg hieß Barbara Góra Irene Hochberg. Ihr heutiger Name schützte sie. Dass sie den Holocaust überlebt hat, war Glück, sagt sie. Sie ist eine der wenigen, die es hatten. Bis 1940 war ein Drittel der Bevölkerung Warschaus jüdischen Glaubens, rund 300 000 Menschen. Dann kamen die Nazis. Sie befahlen den Juden, in einen Bereich im Nordwesten der polnischen Hauptstadt zu ziehen. In der Nacht vom 15. auf den 16. November 1940 ließen sie ihn einmauern. Zwei Jahre später begannen die Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka. Heute leben noch 1 500 Juden in Warschau. Die einst größte Diasporagemeinde des Judentums ist zu einer Gedenkstätte des Glaubens geworden. Einer Pilgerstätte.
Das Herz des Pilgerzentrums ist das Denkmal der Helden. Eine Schülergruppe aus Israel bereitet sich dort auf eine Zeremonie vor, als Barbara Góra auf ihrem Spaziergang am Denkmal Halt macht. Während ein Jugendlicher die israelische Flagge schwenkt, tragen andere ein Gedicht vor. Kerzen flackern, Gitarrenmusik schwebt durch die Luft, Menschen halten sich bei den Händen. Für ­israelische Jugendliche steht ein Besuch in Warschau auf dem Lehrplan. Der Fahnenschwenker steht an der Stelle, die Bundeskanzler Willy Brandt mit seinem Kniefall berühmt gemacht hat. »Früher war dieser Ort viel beeindruckender«, wirft Barbara Góra ein. Neben den Schülern wirkt der haushohe schwarz glänzende Steinklotz zwar imposant, »als hier noch alles in Schutt und Asche lag und sie das Denkmal errichtet hatten, sah es aber aus wie ein Berg in der Wüste«, sagt Góra, schaut es sich eine Weile an, dann dreht sie sich um. Es sei Zeit für ein Mittagessen.
Wie immer geht sie in ein Restaurant. Kochen kann Góra bis heute nicht, aber das Mittagessen ist ihr heilig und so verdrückt sie für eine 83jährige Dame eine beachtliche Portion Fisch mit Reis. Jeden Tag ein warmes Mittagessen zu bekommen, sei es auch nur in günstigen Imbissen, ist heute nicht selbstverständlich.
Im Warschauer Ghetto war das Essen für die Juden streng rationiert. 186 Kalorien, heißt es, habe jeder pro Tag bekommen. Góra erinnert sich nicht mehr genau daran, weiß aber, dass sie mehr hatte: »Mein Vater hatte blonde Haare und konnte deshalb ab und zu unentdeckt durch das Ghetto-Tor spazieren«, erzählt sie und schmunzelt. »Er hat nicht viel mitgebracht, nichts Besonderes, aber wir hatten etwas zu beißen.«
Viele solcher Geschichten sind heute im neuen Museum am Willy-Brandt-Platz dokumentiert. Das Gebäude, das schönste in ganz Warschau, wie Góra meint, ist ein Mahnmal für spätere Genera­tionen. »Seit es hier steht, ist noch mehr los als zuvor«, sagt eine Kioskverkäuferin in einer der Nebenstraßen. Dass sich die Einkesselung des Ghettos zum 75. Mal jährt, merkt sie an den Besucherströmen allerdings nicht. »Hier sind immer viele Menschen, jeden Tag«, sagt sie. Neben Schülergruppen aus Israel sind es vor allem Touristen, Juden aus aller Welt und Menschen auf der Suche nach ihrer Herkunft, die nach Warschau kommen.
Sie wandern von Denkmal zu Denkmal, die oft versteckt in den kleinsten Winkeln nur dann zu sehen sind, wenn man genau darauf achtet. Sie gehen über Straßen, die heute viel größer sind als in den vierziger Jahren, weil sie in Schutt und Asche lagen und in weiträumigerer Form neu entstanden. Doch die wenigen Überlebenden wie Barbara Góra sehen noch die alten Bilder vor sich.
Inzwischen haben wir gegessen, sie erzählt weiter von ihrer Kindheit im Ghetto. »Später, als es immer schlimmer wurde, lagen verhungerte Menschen hier in den Straßen, die mit Zeitungen bedeckt waren«, erzählt Góra. Was ein zehnjähriges Mädchen dabei fühlt? »Nichts«, sagt sie. »Es war völlig normal.« Schokiert war sie, als sie mit einem Butterbrot auf dem Spielplatz stand und ein Jugendlicher aus dem Gebüsch sprang. »Er war so ausgehungert, dass er mir das Brot samt Papier aus der Hand riss und aß.«
Für einen Moment hält sie inne und deutet auf den Boden. Ein bronzener Einlass ist zu sehen, der sich wie eine breite Rinne entlang des Gehwegs zieht. »Warschauer Ghetto 1940–1943« ist dort eingraviert. Wo heute kleine Supermärkte, Restaurants und Parkplätze neben typischen Ost-Plattenbauten sprießen, zog sich einst die Mauer durch die Straßen, die die jüdische Bevölkerung Warschaus von einem normalen Leben trennte.
Zwar gibt es keinen besonderen Gedenktag, 75 Jahre nach dem Beginn der Geschehnisse. Die örtlichen Medien greifen das Thema trotzdem gerne immer wieder auf. »Ein Radiosender bringt die Erinnerungen eines der letzten Überlebenden, der inzwischen gestorben ist«, erzählt Gora.

Auch die jüdischen Genealogen haben viel zu tun. Einige Straßenbahnhaltestellen vom Mauerdenkmal entfernt sitzt Matan Shefi im Emanuel- Ringelblum-Institut für jüdische Geschichte vor einem überdimensionalen Bildschirm und beantwortet Anfragen aus dem Bereich Ahnenforschung. Seit zwei Jahren lebt der Israeli mit polnischen Wurzeln in Warschau. Seitdem hat er Tausende von Anfragen beantwortet. »Sechs pro Tag sind es im Schnitt«, sagt er. Die Zahl derer, die nach ihren Wurzeln in Warschau suchen, wächst immer weiter. Die Anfragen kommen aus der ganzen Welt. Am Tisch nebenan sucht ein Herr Goldschmidt noch lebende Verwandte. »Goldschmidt?« fragt die Sachbearbeiterin. »Es tut mir leid, aber so heißt hier jeder Zweite. So kommen wir nicht weiter.«
Vor dem Haus, in einem Hinterhof am Rand des ehemaligen Ghettos, spielen Kinder Ball. Eine normale Kindheit war auch 1940 noch möglich, sagt Barbara Góra und erzählt von einem Konzertbesuch mit ihrer Schwester. Eine Mozart-Sinfonie hörte sie dort, wo heute ein Kino ist. »Die Deutschen interessierten sich dafür nicht«, sagt sie. »Sie kamen nur ins Ghetto, wenn sie Menschen mitnehmen oder erschießen wollten, weil sie Angst vor Krankheiten hatten.«
Erst später, als 1942 die Deportationen begonnen hatten, mussten sich die Kinder verstecken und durften nicht mehr auf die Straßen. »Meine Mutter gab mir Heimunterricht«, erzählt Góra. »Es war anstrengend, aber so intensiv, dass ich mit zehn schon in der fünften Klasse war.« Sie lacht ihr herzliches Großmutter-Lachen. Ob sie wegen all des Leids und der verlorenen Kindheit noch böse ist, auf die Deutschen? »Nein«, sagt sie. »Viele von uns sehen das anders, aber ich habe inzwischen so viele nette Menschen aus Deutschland kennengelernt, außerdem kann die heutige Generation nichts dafür.« Ein Einwand, den viele, auch bei »Kinder des Holocaust«, nicht teilen: »Wir sagen nicht, dass die Nazis schuld an all dem Leid waren«, sagt etwa ein weiteres Mitglied der Organisation, »das waren die Deutschen. Denn die Nazis waren auch Deutsche.«
Nach einer fünfstündigen Reise durch ihre Kindheit wird Barbara Góra müde. Einen Ort will sie aber noch zeigen. Den Umschlagplatz. Neben einer Hauptstraße wirkt der Gedenkort heute wie ein größerer Parkplatz. Die meterhohe Wand, die drei Seiten des Platzes umgibt, wirkt ein­engend und lässt ahnen, wie sich die Menschen gefühlt haben müssen, die von hier aus nach Treblinka kamen. Ihre Namen sind in die Mauer gemeißelt. Die Abendsonne blitzt durch einen Spalt und taucht den Platz in ein warmes Licht. »Mein Cousin war dort und konnte fliehen«, sagt Góra. »Er hat niemals darüber gesprochen.«
Auch ihre Eltern sprachen nie mit ihr über ihre eigene Flucht. Darüber, wie es die Familie schaffte, vor der Deportation nach Ostpolen zu fliehen. 1943 war das. Es folgten zwei bange Jahre unter ihrer neuen Identität. Die junge Barbara arbeitete als Hausmädchen, schmuggelte Essen von ländlichen Gebieten im Osten in die Hauptstadt und versteckte sich, wenn es nötig war. Dann kamen die Russen. Und die Jugendliche blieb in Warschau. »Ich war hier zu Hause«, sagt sie. Nach Israel oder in die Vereinigten Staaten wollte sie nie. Besucht hat sie die Länder oft. Auch Deutschland, wo es ihr vor allem in Berlin gut gefallen hat. Nur eines fehlt noch auf ihrer Liste: »Irgendwann«, sagt sie, »will ich noch Bayern sehen.«