»Ausprobiert«, Teil 16: Golf

Mobbing mit Handicap

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 16: Golf – neben dem Treffen des Balls ist vor allem das richtige Treffer-Zählen eine große Herausforderung.

Der Golfvirus hat mich vor 40 Jahren befallen, es geschah in den USA, wo mich ein Kollege zu einem Wochenende in seinen Golfclub einlud. Seitdem werde ich gefragt, was ich denn an diesem Sport finde, wozu mir allerdings immer noch nichts Überzeugendes eingefallen ist. Man kann ja auch niemandem, der Äpfel nicht kennt, erklären wie sie schmecken. Aber ein Biss in die richtige Sorte genügt. Golf ist schwierig. Die Bewegungsabläufe sind in ihrer Kompexität nur mit dem Stabhochsprung zu vergleichen. Dazu findet das Spiel in der freien Natur statt. Ein Ball auf dem Weg vom Abschlag ins Loch kann viel erleben: Er kann im Gebüsch verschwinden, im tiefen Gras untergehen oder in einem Erdloch liegenbleiben. Wenn das vom Regen ausgespült wurde, dann hat der Spieler Pech gehabt. Wenn dagegen ein Maulwurf, eine Maus oder ein Wildschein – im Jargon »Grabende Tiere« genannt – das Loch gegraben hat, dann darf der Ball besser gelegt werden, und so weiter.
Seit der Erfindung des Golfs als Sport ist man bemüht, das Regelwerk dem Spiel anzupassen, aber das Spiel entzieht sich. Immer wieder passiert etwas noch nicht Dagewesenes und die Spielleitung muss sich manchmal bis nach St. Andrews in Schottland, wo die obersten Regelhüter sitzen, durchfragen, um zu wissen, was nun Sache ist. Da die Spielleitung nicht überall gleichzeitig sein kann, was ja schon auf dem Fußballplatz die drei Schiedsrichter kaum schaffen, zählt beim Golf ein Spieler den anderen. Ein schönes Modell, das allerdings den menschlichen Faktor außer Acht lässt. Jan Philipp Reemtsma und sein Institut für Sozialforschung haben uns gelehrt, dass Regeln, deren Missachtung nicht sanktioniert wird, nicht existieren. Grundvoraussetzung dabei ist, die Regeln zu kennen – hier fängt es schon an. »My country, right or wrong; if right, to be kept right; and if wrong, to be set right.« Das ame­rikanische Glaubensbekenntnis stammt zwar von einem Deutschen, Carl Schurz, aber angewandt auf das Golfen gibt es gewisse Unterschiede zwischen den Nationen. Was richtig und gut ist, daran freut sich der Amerikaner, und was falsch ist, das stellt er richtig. Hierzulande freut man sich auch am Richtigen und Schönen, findet aber meist noch ein paar Haare in der Suppe. Wenn etwas falsch ist, wenn etwa einer beim Golfen falsch zählt und es überhaupt bemerkt wird, dann wird es selten richtiggestellt, sondern zum Gegenstand von das Clubleben bereichernden Mobbingprozessen.
Zum Ende der Saison gibt es das ProShopTurnier. 120 Mitbewerber – Gegner gibt es beim Golf offiziell nicht – verteilen sich über den Platz. Um elf Uhr geht es mit einem »Kanonenschlag« los. Wenn nämlich alle gleichzeitig ­anfangen, kommen auch alle gleichzeitig wieder zurück und die Siegerehrung hat mehr Publikum. Almut zählt mich. Almut ist um die 40 und war bis vor kurzem bei den freien Golfern vom Verband clubfreier Golfer. Das sind die, die keinem Verein beitreten und keinen Jahresbeitrag zahlen wollen. Sie spielen dann überall gegen eine Gebühr, müssen aber trotzdem in einem Verein sein, nämlich ihrem VcG, sozusagen Golfer zweiter Wahl – und deshalb zahlen sie auf den meisten Plätzen mehr als die anderen. Nun spielt Almut ihr zweites Turnier. Eigentlich hat sie, wie sie uns versichert, daran kein Interesse, ist aber mit Feuereifer bei der Sache und macht sie auch gut. Sie kann sich ihre eigenen Schläge merken, mit meinen ist sie aber überfordert und fragt deshalb nach jedem Loch: »Was darf ich notieren?« Die Metzgereifachverkäuferin fragt ja in der Regel, ob es etwas mehr sein darf. Beim Golf darf es eher etwas weniger sein, wenn man die Einladung annimmt. Dann sind da noch Horst und Egon, zwei Seniorengolfer fortgeschrittenen Alters. Senior wird man beim Golf mit 55. Ich zähle Horst. Horst hat Handicap 42. Das Handicap beim Golf sorgt für einen Ausgleich, dafür, dass jeder nach seiner Spielstärke mitspielen und man die Ergebnisse vergleichen kann. Früher fing man mit einem Handicap von 36 an. Über 18 Löcher durfte man an jedem Loch zwei Schläge mehr brauchen. Das war nicht einfach. Man musste üben und erwarb so etwas wie Demut vor dem Ball. Inzwischen fängt es mit Handicap 54 an – drei Schläge extra pro Loch. Man hat ein Handicap, auch wenn es mit dem Spielen meistens noch nicht klappen will. So einen Tag hat Horst erwischt. Sich damit abzufinden, ist schwer. Nach neun Löchern hat er die Nase voll, und als der Abschlag 20 Meter nach links kullert, ruft er uns »Mulligan« zu und geht seinen Ball holen. Ein »Mulligan« wurde von einem Golfer gleichen Namens erfunden. Wenn man aus dem Auto auf den Platz stürmt, geht oft der erste Schlag daneben, weshalb man den nicht zählt und im Privatspiel einen zweiten macht, einen »Mulligan«. Im Turnier ist der nicht vorgesehen, was auch Horst weiß. »Ihr habt doch nichts dagegen?« versichert er sich. Doch, ich habe etwas dagegen. Ich habe auch etwas dagegen, dass er seinen Ball vor die Abschlagmarkierungen und nicht dahinter setzt, und ich habe etwas dagegen, als er im tiefen Gras seinen Ball verliert und stattdessen einen neuen heimlich einwirft, um ihn dann zu »finden«. Dumm, dass ich ihm dabei zusehe. Damit bin ich endgültig der Spielverderber. Klar, dass Horst nicht auch noch Kapazitäten frei hat, Egon zu zählen. Egon hat Handicap 13, sehr gut, und spielt in der Seniorenmannschaft. Ich war gewarnt: Egon betrügt. Und so einer in der Mannschaft? Nun ja. Se­nioren sind oft schon etwas bedenklich, gerade wegen des Kurzzeitgedächtnisses. Besonders gute Ergebnisse erspielt Egon stets beim alljährlichen Einladungsturnier seiner Hausbank. Das hat damit zu tun, dass der Herr Direktor meint, seinem alten Kumpel einen Gefallen tun zu müssen und darum bittet, dass man einen entsprechend gnädigen Zähler bereitstellt. Wer bestellt, bezahlt, und wer bezahlt, der sagt wo’s langgeht. Das gilt im Leben und auch bei Sponsorenturnieren. Am ersten Loch spielt Egon eine Sieben. Geschrieben wird eine Sechs. Zwei Löcher später sehe ich das und bitte Horst um Korrektur. Ich stelle mich der Herausforderung, nun drei Spieler zu zählen – mich, Horst und Egon. Sage die Ergebnisse an. Horst schreibt. Und Egon ist sauer, weil mich das doch nichts angeht, wie er meint.
Nach sechs Stunden ist es endlich vorbei. Nun kommt Egons große Stunde. Er nimmt Horst beiseite, belehrt ihn, dass da beim No­tieren der Ergebnisse was danebengegangen sei und diktiert ihm sein Wunschergebnis neu. Almut hat gut gespielt. Neun Schläge besser als ihr Handicap. Damit viele einen Preis bekommen, gibt es beim Golf Wertungsklassen – wie bei den Gewichthebern oder im Hühnerstall. Die Besten in Klasse A, die anderen in B und C. Almut bekommt keinen Preis, weil in ihrer Klasse ein Mitbewerber von auswärts 68 Punkte erspielt – 22 Schläge besser als sein Handicap. Eigentlich geht das nicht. Aber der junge Mann freut sich so nett und alle freuen sich mit ihm. Almut bekommt aber auch einen Preis, denn sie lag bei einem Loch mit ihrem Abschlag am nächsten zur Fahne. Horst war schon gegangen. Egon hatte plötzlich und einzig von mir unerwartet 37 Punkte und bekommt den zweiten Preis in der Klasse A. Dann leert der Saal sich rasch und alle fahren heim. Was tun? Die beste Lösung wäre ja, den ganzen Handicap-Zirkus einfach abzuschaffen. Das Clubsekretariat hätte weniger Arbeit und könnte sich um anderes kümmern. Jeder Spieler reklamiert für sich das Handicap, das er braucht. Horst bekommt eine 27 und ist zufrieden, Egon ist endlich »einstellig« – so etwas wie der Ritterschlag beim Golf –, und ich trete mit 29 an, damit ich endlich auch wieder einmal gewinne. Unser Clubhaus ist sehr schön dekoriert. Auf dem Kaminofen stehen die imposanten Wanderpokale. Platz für Wandregale wäre noch reichlich. Dafür kauft jeder Wettspieler seinen eigenen Präsenzpokal, im Internetshop gibt es sehr schöne Modelle. Egon bekommt eine Spezialanfertigung in der Art des Homburger Goldpokals, der dort seit über 100 Jahren alljährlich ausgespielt wird. Bis es soweit ist, werde ich Carl Schurz be­herzigen und dem Spielausschuß auf die Füße treten. »My golfclub, right or wrong; if right, to be kept right; and if wrong, to be set right.« Wenn man den Egons unserer Golfclubs keine Grenzen setzt, dann ändert sich nichts. Eine andere Sportart für sie ist keine Lösung: auch beim Kegeln würde Egon nichts unversucht lassen, seine gefallenen Pins schönzuzählen. Und wenn jetzt wieder die Frage aufkommt, was um Gottes Willen ich denn an diesem Sport finde? Ich kann es nicht sagen, nur raten, auch mal einen Schläger in die Hand zu nehmen.

Anmerkung: Der Name des Golfclubs bleibt ungenannt. Die Namen der Mitbewerber wurden verändert. Wer sie kennt, der wird sie erkennen.