Nach den Pariser Anschlägen – Der Terror als Selbstzweck

Nach Paris

Bei den Pariser Anschlägen handelt es sich nicht um politischen Terrorismus, sondern um Terror als Selbstzweck.

Solidarität und Wut. Das waren meine ersten Gefühle angesichts des Blutbads auf den Straßen von Paris. Solidarität mit den Menschen in Paris, Wut auf den mörderischen Nihilismus der Terroristen. Solidarität und Wut sind auch jetzt noch meine wesentlichen Gefühle; aber jenseits dessen ist es wichtig, die Situation zu analysieren. Hier sind also zwei Artikel, die sich mit einigen der Fragen auseinandersetzen, die sich stellen. Der erste Artikel betrachtet und kritisiert zwei häufig vorgebrachte Erklärungen für das Blutbad – westliche Außenpolitik auf der einen Seite und laxe Einwanderungsgesetze auf der anderen. Der Text wurde bei Al Jazeera English unter dem Titel »Kneejerk finger-pointing after Paris attacks« (Reflexhafte Schuldzuweisungen nach den Anschlägen in Paris) veröffentlicht. (Einer der Terroristen ist mutmaßlich als Flüchtling über Griechenland mit einem syrischen Pass nach Europa gereist. Das ist noch nicht bestätigt; doch selbst, wenn es stimmen sollte, wäre es kein Einwand gegen mein Argument.) Der zweite Artikel wurde im Observer unter dem Titel »Terrorism has come about in assimilationist France and also in multicultural Britain. Why is that?« (Warum hat es Terroranschläge sowohl im assimilatorischen Frankreich als auch im multikulturellen Britannien gegeben?) veröffentlicht. Er betrachtet die französische Sozialpolitik sowie die Gemeinsamkeiten und Gegensätze zwischen multikulturellen und ­assimilatorischen Politikansätzen.

Die Versuchung und die ­Fallstricke einfacher Antworten
Al Jazeera English, 14. November 2015

Das Grauen, das Freitagnacht in Paris entfesselt wurde, hat sich vor dem Hintergrund zweier schwerwiegender internationaler Krisen abgespielt. Eine davon ist der Krieg in Syrien und der Kampf gegen den Islamischen Staat. Die andere ist die Flüchtlingskrise in Europa.
Der Kriegseintritt Russlands hat den Konflikt in Syrien eskalieren lassen. Am Tag vor den Anschlägen in Paris wurde gemeldet, ein amerikanischer Luftschlag habe wahrscheinlich ­Jihadi John getötet, einen Briten, der sich dem Islamischen Staat angeschlossen hatte und dort zu einer wichtigen Propagandafigur geworden war. Allein in diesem Jahr haben mehr als eine halbe Million Migranten und Flüchtlinge, viele von ihnen aus Syrien, die Grenzen Europas im Süden und Osten erreicht. Das Scheitern der EU daran, eine kohärente Antwort darauf zu geben, hat schwere politische Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten ausgelöst, den Hass auf Migranten befeuert und populistischen Parteien reichen Zulauf beschert.
Vielerorts wurden diese beiden Krisen zur Erklärung für die Grausamkeiten in Paris herangezogen. So wurde der Terror als Antwort auf die französische Außenpolitik in Syrien gesehen oder als Konsequenz laxer Einwanderungskontrollen, die den Terroristen die Einreise nach Europa ermöglicht hätten. Beide Argumentationen scheinen oberflächlich betrachtet eine gewisse Überzeugungskraft zu besitzen. Beide sind jedoch grundlegend falsch.
Der Islamische Staat hat offiziell die Verantwortung für die Anschläge übernommen. Im Club Bataclan, wo mindestens 87 Menschen abgeschlachtet wurden, soll einer der Terroristen gerufen haben: »Das ist für Syrien!« Dennoch sollten wir diese Angriffe nicht vorschnell als eine, wenn auch perverse, Antwort auf die französische, oder allgemeiner: westliche Außenpolitik sehen.
Die Terroristen haben weder Symbole des französischen Staates noch seiner Militärgeschichte ins Visier genommen. Sie haben nicht einmal besonders touristische Gegenden angegriffen. Vielmehr haben sie Gegenden und Orte zum Ziel genommen, wo sie vor allem junge, antirassistische, multiethnische Pariser treffen würden. Die Cafés, Restaurants, Bars und der Konzertort, die angegriffen wurden – Le Carillon, La Belle Equipe, Le Petit Cambodge und das Bataclan, das Juden gehört – liegen im zehnten und elften Arrondissement. Es sind Gegenden, die zwar immer stärker gentrifiziert werden, aber immer noch multiethnisch, multikulturell und stark von der Arbeiterklasse geprägt sind.
Der andere Schauplatz war das Stade de France, das Stadion der Nationalmannschaft, wo unter den Augen von Präsident François Hollande gerade Frankreich gegen Deutschland spielte. Sowohl das Stade de France als auch Frankreichs Fußballnationalmannschaft haben große kulturelle Bedeutung. Die Mannschaft wird »Les Bleus« genannt, »noir, blanc, beur« (schwarze, weiße und arabische) Spieler spielen hier zusammen, und sie gilt vielen als Verkörperung des multikulturellen Frankreichs. Und es war im Stade de France, wo »Les Bleus«, angeführt vom algerischstämmigen Zinedine Zidane, 1998 der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft gelang.
Was die Terroristen hassen, was sie auslöschen wollen, waren normale Menschen, die zusammen trinken, essen, lachen. Das ist, was sie hassen – nicht so sehr der französische Staat, sondern vielmehr Werte wie Diversität und Pluralismus.
Dieses Muster steht im Einklang mit vielen terroristischen Attacken, sowohl in Europa als auch andernorts. Terroristen beanspruchen oft politische Motive für ihre Anschläge. Kommentatoren versuchen, deren Taten zu erklären, indem sie behaupten, sie seien die unvermeidliche Konsequenz der durch die westliche Außenpolitik und antimuslimische Einstellungen im Westen hervorgerufenen Gefühle von Ungerechtigkeit. Doch die meisten Angriffe richteten sich nicht gegen politische Ziele, sondern galten Cafés, Zügen oder Moscheen. Bei solchen Anschlägen geht es nicht um eine politische Botschaft oder um ein politisches Ziel – wie beispielsweise bei den Bombenanschlägen der IRA in Großbritannien in den siebziger und achtziger Jahren –, sie sind vielmehr Ausdruck einer nihilistischen Rohheit, deren einziges Ziel es ist, Angst zu erzeugen. Das ist nicht politischer Terrorismus, es ist Terror als Selbstzweck.
Während viele Linke die Ursache für die Terroranschläge in der Außenpolitik des Westens suchen, wurde das Massaker in Paris von rechter Seite genutzt, um rhetorisch Stimmung gegen Flüchtlinge und Migranten zu machen. Das Blutbad hätte verhindert werden können, hätte Frankreich (und Europa) seine Grenzen besser geschützt, behaupten sie.
Wir kennen den Hintergrund der Attentäter von Paris noch nicht. Vielleicht waren sie Migranten oder Flüchtlinge. Doch selbst wenn es so war, sind Argumente, die die Anschläge von Paris mit der Flüchtlingskrise in Verbindung bringen, fragwürdig.
Zuerst einmal ist es oft genug genau jene fürchterliche Gewalt, wie sie Paris am Freitag heimgesucht hat, vor der die Flüchtlinge und Migranten davonlaufen. Und es lässt sich kaum behaupten, die EU heiße sie freundlich willkommen; vielmehr baut man seit 25 Jahren an einer Festung gegen Migration, deren Grenzen militärisch kontrolliert werden.
Wer die Attentäter von Paris waren, wird sich erst noch herausstellen müssen. Aber es lässt sich feststellen, dass der Terrorismus in Europa bisher nicht von Attentätern verübt wurde, die sich auf Flüchtlingsbooten hineingeschmuggelt hatten. Es war ganz im Gegenteil zumeist das Werk hiesiger Jihadisten. Die Brüder Kouachi zum Beispiel, die für den Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar verantwortlich waren, sind in Paris geboren und aufgewachsen. Ebenso Amedy Coulibaly, der am selben Wochenende einen koscheren Supermarkt in Paris angriff und vier Juden erschoss. Drei der vier Selbstmordattentäter, die die 7/7-Bombenanschläge in der Londoner U-Bahn und in einem Bus verübten, wurden in Großbritannien geboren. Auch von den schätzungsweise 4 000 Menschen aus europäischen Staaten, die sich dem IS angeschlossen haben, wurden die meisten hier geboren, viele waren Fachleute und gesellschaftlich integriert.
Jetzt auf die Flüchtlinge zu zeigen, geht nicht nur am Problem des hiesigen Jihadismus vorbei, es schürt zugleich den Hass gegen Immigranten und befördert die Spaltung europäischer Gesellschaften.
Angesichts solchen Horrors wie in Paris nach schnellen Erklärungen und einfachen Lösungen zu suchen, ist verständlich. Aber das Problem des Terrorismus ist komplizierter und mit dieser Komplexität müssen wir uns auseinandersetzen.

Das assimilatorische Frankreich, das multikulturelle ­Britannien und der Terror
The Observer, 15. November 2015

Wir wissen noch nicht, wer die Menschen waren, die das Blutbad in der vergangenen Freitagnacht in Paris verübt haben. Präsident François Hollande hat nahegelgt, dass die Anschläge außerhalb Frankreichs organisiert und mit Unterstützung innerhalb des Landes verübt wurden.
Wer auch immer die Mörder von Paris waren, der Terror in Europa wurde bislang meist von hiesigen Jihadisten verübt und nicht von Terroristen aus dem Ausland. Die Brüder Kouachi zum Beispiel, verantwortlich für die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar, wurden in Paris geboren und sind dort aufgewachsen. Gleiches gilt für Amedy Coulibaly, der am selben Wochenende einen koscheren Supermarkt angriff und vier Juden erschoss. Drei der vier Selbstmordattentäter, die die 7/7-Bombenanschläge in der Londoner ­U-Bahn und einem Bus verübten, wurden in Großbritannien geboren.
Als London noch als das Zentrum des Islamismus und des islamistischen Terrors galt – Londonistan wurde es genannt –, behaupteten französische Politiker und Entscheidungsträgerer, dieses Problem habe sich aufgrund der multikulturellen Politik in Großbritannien so entwickeln können. Sie argumentierten, diese Politik sei spaltend und bringe kein gemeinschaftliches Wertesystem oder Nationalgefühl hervor. Die Antwort darauf seien für viele Muslime Islamismus und Gewalt. »Assimilatorische« Politik hingegen, so hieß es weiter von Seiten französischer Politiker, vermeide die vom Multikulturalismus herbeigeführte gesellschaftliche Spaltung, denn sie behandle jedes Individuum vor allem als Bürger und nicht als Vertreter einer bestimmten Rasse oder Kultur.
Wie lässt sich also erklären, dass auch im assimilatorischen Frankreich der Terror herangewachsen ist? Und wie verschieden sind die französische Politik der Assimilation und der britische Multikulturalimus tatsächlich?
Ein Gutteil der französischen Kritik am Multikulturalismus war treffend. Die britische Politik sprach davon, Diversität zu befürworten. Doch in der Praxis wurden Menschen in ethnische und kulturelle Schubladen gesteckt, ihre Bedürfnisse danach beurteilt, in welche Schublade man sie einsortiert hatte, und die Politik nach diesen Schubladen gestaltet. Minderheiten wurden behandelt, als handle es sich um klar begrenzte homogene Gruppen, in der alle das gleiche wollen, in der alle dieselbe Kultur und denselben Glauben haben. Das Resultat ist eine noch stärker fragmentierte Gesellschaft, in der der Islamismus gedeiht. Ironischerweise ist die französische Politik, obwohl sie von einem ganz anderen Ansatz ausging, auch an genau diesem Punkt gelandet.
Mit einem Bevölkerungsanteil von schätzungsweise fünf Millionen wird Frankreich oft als das Land in Europa bezeichnet, in dem die meisten Muslime wohnen. Tatsächlich leben fünf Millionen Menschen aus Nordafrika in Frankreich, die meisten davon sind säkular, auch wenn eine steigende Zahl sich in den letzten Jahren dem Islam zuwendet. Aber gemäß ­einer Umfrage des Institut Français d’Opinion Publique (Ifop) von 2011 bezeichnen sich nur 40 Prozent als »gläubige Muslime« und nur 25 Prozent besuchen die Freitagsgebete.
Den Einwanderern der ersten Generation nach dem Krieg schlug in Frankreich, ebenso wie in Großbritannien, starker Rassismus entgegen. Die zweite Generation nahm, auch hier wie in Großbritannien, die soziale Diskriminierung und Polizeibrutalität viel weniger hin als noch ihre Eltern. Sie organisierten sich, säkulare Bewegungen waren hier maßgeblich, und gingen auf die Straße, oft in nichtfriedlichem Protest. Im Herbst 2005 gab es Krawalle in den banlieues und in den Städten, Jugendliche lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei, ähnlich wie es 20 Jahre zuvor in England passiert war.
Die Staatsgewalt hatte in Frankreich in den siebziger und achtziger Jahren eine relativ entspannte Haltung zum Multikulturalismus eingenommen; in einer Zeit, in der nur wenige Menschen in gesellschaftlichen Minderheiten ihre Identität durch Kultur oder Religion ausdrückten, wurden kulturelle und religiöse Unterschiede toleriert. Der damalige Präsident François Mitterrand prägte sogar die Formel »droit à la differénce« – »das Recht auf den Unterschied«.
Das ›droit à la differénce‹ wurde abgeschafft, als die Spannungen innerhalb der Communities von Menschen aus nordafrikanischen Staaten offener zutage traten und der Front National als rechte politische Kraft auf den Plan trat. Es wurde ersetzt durch einen härteren assimi­latorischen Kurs, wobei die Schwierigkeiten, die man mit nordafrikanischen Minderheiten hatte, im Licht ihrer »Andersartigkeit« dargestellt wurden. Von den Jugendlichen, die an den Krawallen von 2005 beteiligt waren, bezeichneten sich nur wenige als »Muslime«. Trotzdem wurden die Krawalle und der sich darin ausdrückende Protest weniger als Reaktion auf den Rassismus gesehen, sondern vor allem als Anzeichen einer wachsenden Bedrohung Frankreichs dargestellt – der Bedrohung durch den Islam.
Rhetorisch lehnte die französische Politik das multikulturelle Modell ab, dem Großbritannien folgte. In der Praxis behandelte sie Migranten aus Nordafrika und deren Nachkommen jedoch auf eine sehr »multikulturelle« Weise – als eine einzige Gruppe und vornehmlich als eine muslimische Gruppe. Der Islam wurde zum Symbol für die Ängste der Franzosen vor der Bedrohung ihrer Werte und Identität.
Eine vieldiskutierte Umfrage von 2013, die von Ipsos und dem Centre for Political Studies Sciences Po (Cevipof), besagt, dass 50 Prozent der Bevölkerung vom »unvermeidlichen« ökonomischen und kulturellen »Niedergang Frankreichs« überzeugt sind. Weniger als ein Drittel war der Meinung, dass die Demokratie gut funktioniere, während 62 Prozent »die meisten Politiker« für »korrupt« hielten. Die Umfrage zeigte ein »zerbrochenes Frankreich«, das in Stammesgruppen zerfällt, die von der Politik entfremdet sind, Politikern misstrauen und dem Islam mit Ablehnung begegnen. Das wesentliche Gefühl in der französischen Bevölkerung sei »Angst«, schloss der Bericht.
Die französische Politik, die sich derart einer vertrauenslosen und desillusionierten Öffentlichkeit gegenübersah, versuchte, das Gefühl einer gemeinsamen nationalen Identität zu stärken. Da man jedoch nicht im Stande war, deutlich zu bestimmen, was die Ideen und Werte seien, die die Nation charakterisieren, geschah dies im Wesentlichen dadurch, Feindseligkeit gegenüber Symbolen »des Anderen« zu schüren, hauptsächlich des Islam.
Ironischerweise ist nicht nur die aus Nordafrika stammende Bevölkerung Frankreichs überwiegend säkular, auch die praktizierenden Muslime sind relativ liberal eingestellt. Nach der Ifop-Umfrage tragen 68 Prozent der praktizierenden Frauen nie den Hijab. Weniger als ein Drittel der praktizierenden Muslime würden ihren Töchtern verbieten, einen Nichtmuslim zu heiraten. 81 Prozent sind der Meinung, dass Frauen bei einer Scheidung gleiche Rechte haben sollten, 44 Prozent haben gegen nichteheliche Lebensgemeinschaft nichts einzuwenden, 38 Prozent unterstützen das Recht auf Abtreibung und Sex vor der Ehe wird von 31 Prozent gebilligt. Eine stark konservative Einstellung zeigt sich jedoch gegenüber Homosexualität, die 77 Prozent der praktizierenden Muslime ablehnen.
Anstatt die aus Nordafrika stammende Bevölkerung als Staatsbürger voll anzuerkennen, hat die französische Politik ihre Marginalisierung institutionalisiert und den Rassismus und die Diskriminierung ignoriert, der sie ausgesetzt war und ist. Viele Franzosen sehen ihre Mitbürger aus Nordafrika nicht als Franzosen, sondern als »Araber« oder als »Muslime«. Die zweite Generation von Nordafrikanern in Frankreich ist jedoch von der Kultur und den Werten ihrer Eltern und vom »Mainstream-Islam« genauso entfremdet wie von der französischen Mehrheitsbevölkerung.
Ein Beispiel sind die Brüder Kouachi, verantwortlich für das Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo. Sie sind in Gennevilliers aufgewachsen, einem Vorort im Norden von Paris. Der Drahtzieher, Cherif Kouachi, ging nur selten in die Moschee und scheint nicht besonders religiös gewesen zu sein; ihn trieb vielmehr ein Gefühl sozialer Entfremdung. Nach Auskunft des Präsidenten der örtlichen Moschee, Mohammed Benali, gehörte er zu einer »Generation, die sich ausgeschlossen, diskriminiert und vor allem erniedrigt fühlte. Sie sprachen französisch und fühlten sich als Franzosen, aber sie wurden als Araber gesehen. Sie waren kulturell verwirrt.« Kouachi habe sich vor allem durch das Beharren des Imams auf politisches Engagement beleidigt gefühlt, berichtet Benali ebenfalls. »Als der Imam allen sagte, sie sollten sich als Wähler registrieren lassen, ­damit sie wählen könnten und an der Gesellschaft teilnehmen, hat er das abgelehnt. Er sagte, er sei kein Bürger Frankreichs und wolle mit dem demokratischen Prozess nichts zu tun haben. Dann verließ er die Moschee.«
Die Geschichte von Cherif Kouachi unterscheidet sich nur unwesentlich von der von Mohammed Sidique Khan, dem Anführer der Attentäter von London. Sie stammen nicht aus einem Milieu, das zwischen zwei Kulturen gefangen ist, wie oft behauptet wird, sondern zwischen keinen Kulturen. Als Resultat haben einige von ihnen sich dem Islamismus zugewandt und ein paar wenige haben ihrer Wut durch jihadistische Gewalt Ausdruck gegeben.
Sowohl beim multikulturellen als auch beim assimilatorischen Modell gibt es positive Aspekte. Die Akzeptanz von Diversität des Multikulturalismus und die assimilatorische Entschlossenheit, jeden als Bürger zu behandeln und nicht als Vertreter einer bestimmten Rasse oder Kultur, sind zu begrüßen. Zugleich gibt es auf beiden Seiten Aspekte, die zerstörerisch wirken – der Multikulturalismus tendiert dazu, Minderheiten in ethnische und kulturelle Schubladen zu sortieren, während der Versuch der assimilatorischen Politik, eine gemeinsame Identität zu schaffen, die »Andersartigkeit« jener Gruppen institutionalisiert, die »nicht dazugehören«.
Idealerweise gälte es, die positiven Aspekte beider Ansätze zu verbinden – Diversität anzuerkennen und zugleich alle als Bürger zu behandeln, nicht als Vertreter einzelner Gruppen. Tatsächlich haben Frankreich und Großbritannien jedoch gerade die verheerenden Aspekte umgesetzt – Großbritannien sortiert ethnische und kulturelle Minderheiten nach begrifflichen Schubladen, Frankreich konstruiert eine nationale Identität, dadurch dass die aus Nordafrika stammende Bevölkerung als »die Anderen« ausgegrenzt wird. Das Resultat dieser Politik ist, das die Gesellschaft sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich noch stärker zersplittert ist. Und in beiden Staaten ist Raum entstanden, in dem Islamismus wachsen kann.

Der Text: »After Paris« erschien am 15. November auf Pandaemonium (kenanmalik.wordpress.com), dem Blog des Autors.