Widerstand in der türkischen Kunstszene

Schneller als die Polizei erlaubt

Auf Zensur, Einschüchterung und Demonstrationsverbote reagiert die Kunstszene der Türkei mit spontanenWiderstandsaktionen. Theater dient als Vehikel des politischen Protests.

Die islamisch-konservative AKP hat bei der Parlamentswahl zwar die absolute Mehrheit erzielt, die für eine Verfassungsänderung nötige Zwei-Drittel-Mehrheit aber verfehlt. Während Präsident Recep Tayyip Erdoğan die unabhängigen Medien in der Türkei immer stärker gängelt, wird seine Politik von der regierungsnahen Propagandapresse mit Nachdruck unterstützt. »Die Künstler, die ihr Volk verachten« titelte beispielsweise die Zeitung Sabah drei Tage nach der Wahl und stellte prominente Regierungskritiker an den medialen Pranger. Die Tweets der Künstler seien hasserfüllt, hieß es. Auf der Titelseite druckte die Zeitung das Foto des international bekannten Komponisten und Pianisten Fazil Say. Der Musiker und Bürgerrechtler hatte nach dem Wahlsieg der AKP getwittert: »Möge diese 13jährige finstere Ära ein Ende finden (…). Möge jeder von uns dieses eine Leben in Gleichheit und Frieden leben können.« Insgesamt 16 prominente Künstler und Autoren wurden mit Fotos und Zitaten vorgeführt. Die Schauspielerin Pelin Batu hatte auf Twitter geschrieben, dass die Bewohner auf den Straßen von Mecidiyeköy, einem Istanbuler Stadtteil mit mehrheitlich AKP-kritischer Bevölkerung, in Sprechchören gefordert hatten, dass »die Diebe« endlich aus dem Parlament »vertrieben« werden sollten.
Zwei Wochen nach der Wahl ist offensichtlich, wie schwer es Regierungskritiker haben. Selbst in dem eher zahmen Fortschrittsbericht der EU wird konstatiert, dass die Regierung die Öffentlichkeit vor den Wahlen gezielt mit Nachrichten über Terror und Hetze gegen Kurden manipuliert hatte.
Trotz Drangsalierung zeigt sich aber, dass sich die türkische Zivilgesellschaft seit den Gezi-Protesten weiterentwickelt und organisiert hat. Statt großer Demonstrationen, die in den vergangenen zwei Jahren immer mit Gewalt niedergeknüppelt wurden, gibt es spontane Aktionen, die über die sozialen Medien angekündigt werden. Auch als Reaktion auf die Zensur der türkischen Medien existieren mittlerweile umfassende Informationsquellen im Netz mit unabhängigen Internetportalen und einer Vielzahl von Facebook-Gruppen.
Über Twitter werden Nachrichten blitzschnell und tausendfach geteilt. Kurz nach dem Bombenanschlag auf die Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober strömten Menschen zum Taksim-Platz, um sich eine Theater-Performance anzusehen. Unangemeldete Aktionen auf dem Taksim-Platz sind seit den Gezi-Protesten eigentlich streng verboten. Die Polizei begriff jedoch gar nicht so schnell, was die Frauen in den Tanztrikots da eigentlich vorhatten. Die Künstler posierten mit Schildern, auf denen die Namen der Getöteten standen. Dann verlasen sie Trauerbekundungen von Angehörigen, die auf den Accounts der Opfer geteilt worden waren. »Wir werden dich nie vergessen«, »Du wirst uns so fehlen«, »Ruhe in Frieden«. Plötzlich knallt es auf dem Platz, alle Tänzer lassen sich zu Boden fallen, eine Frau rennt panisch umher und schreit: »Lebt noch jemand? Bitte sagt doch etwas«. So ungefähr muss es gewesen sein an diesem fürchterlichen Morgen des 10. Oktober in Ankara, als 102 Menschen, die für Frieden demonstieren wollten, von islamistischen Extremisten getötet wurden. Die Polizei greift während der Performance auf dem Taksim-Platz nicht ein. Die Künstler können in Ruhe den Platz verlassen, die Zuschauermenge zerstreut sich. Es herrscht Betroffenheit, aber auch Zuversicht, dass es noch nicht vorbei ist mit dem Traum von Freiheit.
In der kleinen Wohnung in einer Parallelstraße des Istiklal Boulvard treffen sich die Künstler im linken Kulturzentrum Mondlicht in der Nähe des Taksim-Platzes. Viele Schauspieler haben Freunde bei dem Anschlag verloren. Für sie steht fest: Die Kunst muss jetzt für den Frieden einstehen. Nurten Karahancı ist Schauspielerin, aber sie versteht sich auch als politische Aktivistin. Sie sitzt unter einem Bild, das Che Guevara und Nazim Hikmet zeigt. »Wir sind stark von Bertolt Brechts Theatertheorie beeinflusst«, sagt sie, »wir versuchen, die Techniken des epischen Theaters einzusetzen. Für ein gesellschaftlich wirksames Theater muss man die einfachen Bürger erreichen. In Ankara gab es ein Massaker. Kunst ist die richtige Form des Protests, um dem zu begegnen. Es ist verboten, auf dem Taksim-Platz zu demonstrieren, deswegen arbeiten wir mit Symbolik und sind immer spontan.«
Weil politische Demonstrationen in der Türkei zu einem gefährlichen Wagnis geworden sind, dient die Kunst als Vehikel des Widerstands. Auch die Istanbuler Kunst-Biennale ist auf subtile Art und Weise politisch geworden. Vieldeutige Installationen verweigern sich einem eiligen Konsum. Die Besucher sind gefordert, die gesellschaftskritischen Botschaften zu entschlüsseln. Die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev ermutigte die Künstler dazu, mit Sinnbildern zu arbeiten. In der Bibliothek des Museums Salt in Karaköy füllen kleine, eng bekrizelte Zettel zwei große Vitrinen. Formeln und Definitionen sind auf dem Papier zu lesen. Es geht um Physik, türkische Literatur, Geschichte. Bei dem Ensemble handelt es sich um eine der Lieblingsarbeiten der Kuratorin. Sie sitzt in einem kleinen Konferenzraum der »Stiftung für Kunst und Kultur« und sagt: »In Diktaturen gedeiht insbesondere die abstrakte Kunst.« Zeyno Pekünlü hat diese großartige Installation gestaltet, in der sie Spickzettel aus der Universität ausstellt. Es ist eine Arbeit, die sich mit Wahrheit beschäftigt. Was ist Ehrlichkeit und was ist Betrug? Und wer betrügt eigentlich? Seit den Gezi-Protesten engagiert sich Pekünlü politisch. Sie nimmt an einem der vielen aus den Protesten 2013 entstandenen politischen Foren teil, die sich regelmäßig treffen, um Strategien zu entwickeln. Sie empfindet das politische System als korrupt und engagiert sich lieber in lokalen selbstorganisierten Stadtteilforen, um sich für die Belange der Öffentlichkeit einsetzen. Die Künstlerin unterrichtet an einer Istanbuler privaten Hochschule. Die Mogelzettel der Studierenden interpretiert sie als Versuch, das starre Bildungssystem der Türkei auszutricksen. »Ich habe diese Zettel gesammelt und gemerkt, dass sie einen komplexen Zusammenhang herstellen. Wie funktioniert unser Bildungssysten, wie triezen wir unsere Studierenden auf dem Weg ins Berufsleben? Die Studierenden hacken das System mit diesen Spickzetteln. Ich finde, wir sind als Künstler heute in einer besseren Position als vor den Gezi-Protesten. Die Leute haben angefangen, sich zu organisieren. Nicht in einer Partei oder Gewerkschaft, sondern als gemeinsam Agierende.«
Der Künstler Genco Gülan postete kurz vor den Wahlen ein Foto, das ihn vor dem Marinemuseum in Istanbul zeigt. Er steckte mit dem Oberkörper in einem Kanonenrohr. Tausende von Likes erhielt seine pazifistische Botschaft auf den sozialen Medienplattformen. Auch Genco Gülan war einfach schneller, als die Polizei erlaubt.