Deutsche Pazifisten wollen Frieden mit dem IS

Sie wollen nur reden

Nicht einmal eine Woche nach den verheerenden Anschlägen von Paris luden friedensbewegte Organisationen in Frankfurt am Main zum Gespräch über eine diplomatische Anerkennung des »Islamischen Staats«.

Ein älterer Herr packt ein selbstgemaltes Plakat aus und stellt es an das Rednerpult. »Keine USA-SS!« steht unter anderem darauf. Der weitere Inhalt ist etwas diffus. Der Mann möchte offenbar gegen »Todesdrohnen in Deutsch-Amerika« protestieren. Schnell eilt eine Organisatorin herbei, es kommt zur Diskussion. Schließlich packt der Mann sein Plakat wieder ein. Die Veranstalter hätten sich an den Buchstaben »SS« gestört, sagt er später, der Rest sei wohl in Ordnung gewesen.
Zugetragen hat sich diese Szene vorige Woche im Frankfurter »Haus am Dom«. Sie war ein erstes Anzeichen dafür, dass der Abend turbulent verlaufen könnte. Die »Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinte Kriegsdienstgegner« (DFG-VK) hatte zusammen mit der katholischen Organisation »Pax Christi« zu einer Podiumsdiskussion geladen. Der Titel: »Islamischer Staat – vernichten oder diplomatisch anerkennen?« Die Veranstalter hatten sich von dem Abend eigenen Bekundungen zufolge Lösungsansätze fernab der »Mainstream-Debatten« erhofft.

Mehr als 100 Menschen kamen zu der Veranstaltung. Eigentlich hätte die italienische Journalistin Loretta Napoleoni ihr neues Buch »Die Rückkehr des Kalifats« (Jungle World 27/2015) präsentieren sollen. Darin fragt sie sich, ob der »Islamische Staat« (IS) dank eines »internen Konsenses jemals über die nötige Legitimität verfügen« könne, »um den Schritt zu einem modernen Staat zu vollziehen«. Wenn dies der Fall sei, so Napoleoni weiter, »wäre es dann nicht besser, einen solchen Staat in die internationale Gemeinschaft zu holen und ihn dadurch zur Respektierung des Völkerrechts zu zwingen, bevor er die Karte des Nahen Ostens zu unserem Nachteil völlig neu zeichnet?« In Interviews hatte die Autorin sich mehrfach gegen ein militärisches Vorgehen gegen den IS ausgesprochen und für diplomatische Verhandlungen plädiert. Etwa eine Woche vor dem Termin in Frankfurt hatte Napoleoni ihre Teilnahme überraschend abgesagt. Seitens der Veranstalter hieß es, ihr habe das zu erwartende Medieninteresse nicht ausgereicht. Mit ihrer Absage habe Napoleoni »eindeutig gegen Vereinbarungen« verstoßen.
Das Publikum, das erst am Abend davon erfahren hat, ist dementsprechend enttäuscht. Aus der geplanten Diskussion wird ein Vortrag des Journalisten Andreas Zumach. Anknüpfend an Napoleonis Aussagen vertritt er die Einschätzung, dass der IS vor allem als Resultat der kolonialen Geschichte zu verstehen sei. Die Zerstörung einigermaßen stabiler politischer Strukturen durch den Irak-Krieg und insbesondere die radikale Entmachtung der sunnitischen Minderheit hätten den Grundstein für die Entstehung der Terrormiliz gelegt. Die Besonderheit des IS im Vergleich zu anderen islamistischen Terrorgruppen bestehe in der Schaffung staatlicher Strukturen, einer öffentlichen Daseinsvorsorge und halbwegs geregelter politischer Verhältnisse. Deshalb werde das »Kalifat« auch von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt. Der IS werde »grässlich unterschätzt«, wenn er »nur als eine Bande von Mördern und Vergewaltigern« dargestellt werde, sagt Zumach.
Im anschließenden Gespräch bezeichnen Zumach und Thomas Schwoerer, einer von mehreren Bundessprechern der DFG-VK, die diplomatische Anerkennung des IS mehrfach als realistische Möglichkeit. Zumach gibt zu bedenken: »Wenn es darum geht, einen Gewaltkonflikt zu lösen, kann man niemanden ausschließen als potenziellen Gesprächspartner.« Beide sind sich weitgehend einig: Militärische Interventionen seien nutzlos, da diese den gewalttätigen Konflikt nur weiter anheizten. Stattdessen könnten das Ende der Wirtschaftssanktionen im Nahen Osten, die Beendigung jeglicher Waffenlieferungen und der Verzicht auf militärische Einsätze die Wende bringen. Das primäre Ziel des IS bestehe in der Bildung eines eigenen Staats. Der Terror in Syrien und im Irak sei lediglich Mittel zu diesem Zweck. Bei den Anschlägen in Paris und Ägypten handele es sich um »Reaktionen auf die Angriffe gegen den IS«, so Zumach.

Sobald das selbsternannte Kalifat seine geographischen Grenzen abschließend festgelegt habe, sei eine Basis geschaffen für internationale Verhandlungen zwischen allen Beteiligten – anders als bei den Friedensgesprächen in Wien, die »unter Ausschluss des IS« stattgefunden hätten, wie Schwoe­rer bemängelt. Dass es das selbsterklärte Ziel der Jihadisten ist, nach der Eroberung Jerusalems nicht an der Mittelmeerküste Israels Halt zu machen, sondern Europa und dann die gesamte Welt zu erobern, spielt für die Diskutanten keine Rolle. Überhaupt dürfe es keine Grenzen der Diplomatie geben. »Wer Frieden will, muss auch mit seinen Feinden reden«, sagt Schwoerer. Das zeige schon die Erfahrung mit anderen Terrorgruppen wie der nordirischen IRA und den afghanischen Taliban. Auch Saudi-Arabien und der Iran gelten den Männern auf dem Podium als potentielle Gesprächspartner. Der Iran könne eine »konstruktive Rolle für die Befriedung der Region spielen«, so Zumach.
Auch in Beiträgen aus dem Publikum geht es um Gesprächspartner. Allerdings schweifen die Wortmeldungen schnell vom Thema des Abends ab. Ein Mann, der sich als ägyptischer Muslim vorstellt, attestiert »dem Westen« mit Blick auf den Wahlsieg der Hamas im Gaza-Streifen 2006 eine strategische Doppelmoral. So seien dort zwar freie Wahlen abgehalten worden, das Ergebnis habe Israel und seinen westlichen Verbündeten jedoch nicht gefallen, weshalb jedes Gespräch verweigert worden sei. Das Podium stimmt zu. Zumach spricht unter Applaus von »Doppelstandards«, die in Bezug auf Israel angewendet würden, und bezeichnet die Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästinensern als »Kernkonflikt der Region«. Das letzte Wort aus dem Publikum hat ein älterer Herr, der über die USA reden möchte. Die »größte Weltmacht« könne zwar Europa und Afrika unterwerfen, nicht aber Asien. Deshalb sei es für die USA wichtig, dass dort alle gegeneinander kämpften und sich vernichteten. Der IS sei »instrumentalisiert worden von den Amerikanern«, um die Region zu destabilisieren.

Die Stimmung im Publikum ist mittlerweile aufgeheizt, es kommt immer wieder zu Zwischenrufen. Vereinzelt gibt es klar formulierten Widerspruch. Beim IS handele es sich um »blindwütige Islamfaschisten«, schimpft einer der Anwesenden. Deshalb brauche es eine »internationale Friedenskoalition, die diese ganze Bande an die Wand schießt«. Er wird ausgebuht. »Was für ein Faschist«, murmelt ein Zuhörer. Zumach merkt an, dass es derzeit niemanden vor Ort gebe, der den bewaffneten Kampf gegen den IS führen könne. Der erfolgreiche kurdische Widerstand wird bis zum Ende des Abends nicht erwähnt. Ein weiterer Zuhörer sagt, der Vergleich mit anderen islamistischen Terrorgruppen helfe nicht weiter. Ihn erinnere das Vorgehen des IS eher an die Roten Khmer in Kambodscha oder an den Nationalsozialismus. »Und wenn die Friedensbewegung das nicht sieht, hat sie den Antifaschismus verraten«, ergänzt er. Der Applaus bleibt mehr als verhalten.