»Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik« von Thomas Edlinger

Kein Ausweg aus der Sackgasse

Thomas Edlingers Studie zum Unbehagen an der Kritik verliert durch die Vielfalt des Begriffs dessen Einheit aus den Augen.

Dass sich alle weltgeschichtlichen Tatsachen zweimal ereignen, das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Farce, trifft nicht nur auf Staatsstreiche, sondern auch auf die Idee der »kommunistischen Gesellschaft« zu, in der jeder »sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann«. Das erhofften sich Marx und Engels von einer Welt, in der »die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt«. Schon ihre Konkretisierung dieser Hoffnung, es werde sodann jedem möglich sein, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe«, klingt aber allzu sehr nach Urlaub in der Landkommune, um die Sehnsucht nach einem anderen Leben zu befeuern. Da sich als universaler Zwang zu verwirklichen anschickt, was Marx und Engels sich noch als Aufhebung des Zwangs gesellschaftlicher Arbeitsteilung dachten, und da sich jede Vorstellung der Individuen von einem eigenen Beruf nahezu aufgelöst hat, ohne dass der Primat der Arbeit abgeschafft wäre, wirkt das Bild vom sich frei entfaltenden Menschen, der nach Verzehr des selbstgeschossenen Kaninchens ein paar Stunden herumdialektisiert, heute seltsam schal und bieder.
Merkwürdig genug, dass die kommunistische Gesellschaft hier als Agrargesellschaft und der Einzelne als Großgrundbesitzer figuriert, der eben nur nichts Eigenes und deshalb irgendwie alles besitzt. Erst recht bezeichnend an der Stelle aus der »Deutschen Ideologie« ist, dass in ihr der Kritik, obzwar sie als wichtige Tätigkeit erscheint, kein besonderer Gegenstand mehr zugeordnet wird. Auch darin nimmt die Passage unfreiwillig treffend vorweg, was seither aus den Menschen wurde. Die Farce, als die Marx’ und Engels’ Vorstellung von einer Gesellschaft, in der kein »Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit« mehr möglich ist, sich heute realisiert, erscheint als Leben einer kreativen Bürogemeinschaft, deren Insassen auf dem Dachgarten eigenes Gemüse züchten, in der WG des Teamkollegen wohnen und zwischen zwei Skype-Konferenzen immer mal wieder Zeit finden, um in Blogs und Facebook-Foren ihre Lieblingsfeinde anzupampen, respektive: »zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe«. Kritik, einst Ausdruck der Negativität des Geistes, ist zu einer gesellschaftlich geforderten Alltagspraxis geworden, in einer Reihe mit Lebensschlüsselqualifikationen wie gute Laune, Aufgeräumtheit, Problembewusstsein, Zielorientierung, Leutseligkeit und Flexibilität.
Thomas Edlinger geht in seinem Buch »Der wunde Punkt« diesem Sich-zu-Tode-Siegen der Kritik nach. Zu diesem Zweck unterscheidet er fünf Verfallsformen der Kritik: »volkstümliche Kritik«, »Hyperkritik«, »automatisierte Kritik«, »Pseudokritik« und »Miserabilismus«. Erstere sei »häufig ressentimentgetrieben und populistisch«; die zweite Variante werde im »Klagemodus« vorgetragen und sei geprägt durch »Opfernarzissmus« und »Differenzfetischismus«; die dritte habe jede »Selbstkritik« aus sich ausgetrieben; die vierte versuche, die »Affirmation«, die sie tatsächlich betreibe, durch Selbstironie »erträglich zu machen«; der »Miserabilismus« schließlich beschwöre »die Unentrinnbarkeit aus deformierenden Verhältnissen«. Im Folgenden dekliniert Edlinger populäre Themen durch, anhand derer sich die fünf Erscheinungsformen des Kritikverfalls beobachten lassen. Leitmotivisch begegnen in seinem Buch die Auseinandersetzung mit der »Islamophobie«, die Sprachpolitik im Gender-, Queer- und Critical-Whiteness-Milieu, die Politisierung des Privatlebens und der Alltagskultur (Sexualität, Mode, Ernährung) sowie diverse Formen »verkürzter Kapitalismuskritik«.
Die leitende These von Edlingers Buch ist so simpel, dass sie nicht einmal ganz falsch ist: Die Inflationierung der Kritik zerstöre deren Grundlagen; was einmal die Negativität des Ganzen vor Augen führen und zu dessen Abschaffung beitragen sollte, sei in partikulare Streitigkeiten diffundiert und könne keine normative Kraft mehr entfalten; der »Fortschritt der Kritik an der Kritik« habe an einen Punkt geführt, »wo selbst die letzten Gewissheiten über die Möglichkeiten eines kritischen Verhaltens (…) sich auflösen«. Unverständlich ist nur, weshalb Edlinger die Formen diskursiven und intellektuellen Leerlaufs, die er anhand oft witziger Alltagsbeobachtungen entfaltet, überhaupt als (wenngleich depravierte) Varianten von Kritik und nicht als deren Gegenteil auffasst. Schon die fünf Verfallsformen, die er zu Beginn unterscheidet, offenbaren, dass Edlingers eigenes Verständnis von Kritik genauso vage ist wie das seiner Opponenten: Kritik, die »volkstümlich« ist oder sich »automatisiert«, ist keine, sondern Propaganda oder leere Phraseologie. Die Fähigkeit zur Unterscheidung, die der Begriff der Kritik bezeichnet, meint eben nicht die Bereitschaft, zwischen leeren Kategorien zu differenzieren, sondern im Gegenteil die Fähigkeit zur Bestimmung des Gegenstands; Unterscheidung und Bestimmung fallen im Akt des Urteilens zusammen, dessen sprachliche Ausdrucksform die Kritik ist.
Edlinger dagegen unterscheidet, wo nichts zu unterscheiden ist, und subsumiert das unbedingt zu Unterscheidende unter den gleichen Begriff. Während Propaganda und Populismus dabei zu Pseudoformen der Kritik werden, wird Kritik, die so genannt zu werden verdient, ganz relativistisch zur Propaganda oder zumindest zur Übertreibung erklärt. Im Fall der Islamkritik klingt das dann so: »Die Beschwörung des Kampfes zwischen Licht und Dunkel, zwischen Aufklärung und Mittelalter fördert eine Stimmung, in der angeblich Integrationsunwillige angepöbelt und Moscheen beschmiert werden. Dabei können die Kritikfronten oft kreuz und quer verlaufen: Sonst überaus maskulinistische Liberalismuskrieger entdecken ihre weibliche Seite und ereifern sich fanatisch gegen das ratzfatz als männlich-islamisches Unterdrückungswerkzeug vereindeutigte Kopftuch und jegliche Verschleierung. So viel Klarheit in der Interpretation eines Stoffes, der auch eine vorreligiöse, von weiblicher Ehre handelnde Semantik hat, ist mir verdächtig.«
Allerdings ist die Unterteilung der Welt in »Licht und Dunkel« zuallererst dem Islam eigen, der nur Gläubige und Ungläubige, Hörige und Abgefallene kennt und eben deshalb die gegenwärtig gefährlichste Praxis der Gegenaufklärung ist. Und dass das Kopftuch kein »Unterdrückungswerkzeug« sein muss, stimmt nur insofern, als »Werkzeug« zu harmlos ist, um ein Emblem zu bezeichnen, das als gelebter Ausdruck freiwilliger weiblicher Selbstunterwerfung fungiert. Deren Kehrseite ist die von Edlinger hochgehaltene »weibliche Ehre«, die genauso wie der »Stolz« ein Attribut autoritärer Unterworfener ist, die aus ihrer Selbstentmündigung libidinösen Mehrwert ziehen. Um zu begreifen, welchen Anteil die widersprüchliche Einheit aus Erniedrigung und Erhöhung an der mörderischen Dynamik islamischer Bewegungen hat, wäre allerdings herauszuarbeiten, worin der Islam mehr und Schlimmeres ist als eine der vielen Religionen, für die Edlinger ihn zu halten scheint.
Edlingers Buch zeigt insofern trefflich, dass ein begriffsloser Liberalismus, der allem und jedem eingeschränkt Recht gibt und nichts uneingeschränkt kritisiert, selbst Symptom jener Krise der Kritik ist, die Edlinger diagnostiziert. Leider erscheint auch seine berechtigte Kritik an den »X-Ratingagenturen« der politischen Korrektheit, die darüber wachen, dass bloß keine triggernden Worte die Traumatisierten belästigen, aus denen die nachbürgerliche Öffentlichkeit sich zusammensetzt, in diesem Lichte viel zu harmlos, als freundliche Bitte um Nüchternheit und Mäßigung, wo es doch in Wahrheit darum ginge, das wahnhafte und autoritäre Potential herauszuarbeiten, das darin steckt. Ein »Exitszenario aus den Sackgassen der Kritik«, wie er es am Ende seines Buches erhofft, entwirft Edlingers Studie also gewiss nicht. Eher erweckt sie den Eindruck eines Navigationsgeräts, das die Peilung verloren hat, so dass die Benutzer es besser ruhen lassen und auf die eigenen Sinne vertrauen sollten.

Thomas Edlinger: Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2015, 318 Seiten, 18,50 Euro