Fußballspiele werden Ziele von Terroranschlägen

Mehr als nur ein Spiel

Betrachtet man das ambivalente Verhältnis der Islamisten zum Fußball, scheinen die Selbstmordanschläge am »Stade de France« und die Absage des Länderspiels in Hannover aus mehreren Gründen nicht zufällig gewesen zu sein.

Was vor den Toren des »Stade de France« während des Fußballfreundschaftsspiels der deutschen Nationalelf gegen die französische Auswahl kurz vor den Detona­tionen tatsächlich passierte, war lange unklar. Ob und wie sich die Attentäter Zutritt zum Stadion verschaffen wollten, ist auch heute noch ungewiss – doch es deutet alles darauf hin, dass neben dem Club Bataclan und den zahlreichen Cafés ganz bewusst ein Fußballspiel als Ziel der Attentate ausgesucht worden war. Denn der Fußball steht im Weltbild vieler Islamisten für eine jener zahlreichen Konkretionen von Lebensfreude und Körperlichkeit, die sie als »westlich« ablehnen.
Vielen radikalen Klerikern gilt der Fußball als eine Erfindung des Westens, um die Gläubigen von der korrekten Ausübung ihres Glaubens abzulenken. Der saudi-arabische Scheich Abdal-Rahman al-Barrak etwa erließ anlässlich der WM in Brasilien eine Fatwa, in der er den Fußball als »frivoles« Spiel und als »Verschwendung von Energie, Zeit und Geld« bezeichnete. Jene Muslime, die sich für den Sport begeisterten, hätten die »Gewohnheiten der Feinde des Islam angenommen«. Gleichzeitig fürchten sich viele Islamisten auch vor der Begeisterung für den Fußball, die nicht nur, aber vor allem auf dem afrikanischen Kontinent mitunter so stark ausgeprägt ist, dass sie politische und religiöse Wertvorstellungen in den Hintergrund drängen kann: Wer einmal die Bilder aus afrikanischen Städten und Gemeinden gesehen hat, wie sich deren Bewohner etwa an einem Spieltag der englischen Premier League oder der großen internationalen Turniere vor dem Bildschirm versammeln, um Teams und Spieler anzufeuern, bekommt eine Ahnung davon, dass dabei selten an das nächste Gebet oder gar den Jihad gedacht wird.
Dementsprechend war auch der Fußball immer schon ein Ziel islamistischer Gewalt. Während der Fußballweltmeisterschaft 2014 verübten Jihadisten der Terrormiliz al-Shabab blutige Anschläge auf kenianische und nigerianische Restaurants und Cafés, in denen sich zahlreiche Fans zusammengefunden hatten, um gemeinsam die Spiele zu verfolgen. In einigen Gegenden Somalias haben Islamisten sowohl die Ausstrahlung als auch die Ausübung von Fußball verboten; lediglich für Männer sollen Ausnahmeregelungen gelten, die allerdings nur lange Trikots und lange Hosen während eines Spiels tragen dürfen, das darüber hinaus 15 Minuten vor einem Gebet enden muss. Und erst Anfang 2015 berichteten verschiedene Nachrichtenagenturen, der »Islamische Staat« (IS) habe 13 Teenager in Mossul hingerichtet, weil sie das Fußballspiel zwischen dem Irak und Jordanien gemeinsam verfolgten, das im Rahmen des Asien-Cups stattfand.
Dass die Jihadisten den Fußball lediglich aus Hass bekämpfen, ist aber nur die halbe Wahrheit. Michael M. Dorsey, der das Blog »The Turbulent World of Mideast Soccer« betreibt und als Kenner der Thematik gilt, wies etwa nach den Pariser Attentaten darauf hin, dass das Verhältnis der Islamisten zum Fußball ambivalent und keineswegs nur von Ablehnung geprägt sei. Viele, vor allem aus Europa stammende Jihadisten seien selbst Fußballfans oder Spieler gewesen, die den Fußball genau beobachteten und es deswegen verstünden, die Sportart zu instrumentalisieren und in ihre Strategie einzubauen. Die Argumentation der Islamisten erinnert dabei an alte Neonazi-Konzepte von Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre: Einerseits fördere der Fußball die Kameradschaft und stärke die Militanz, andererseits sei er sehr gut geeignet als Rekrutierungsfeld vor allem für Jugendliche. Auch der IS scheint dem Fußball in diesem Sinne nicht nur abgeneigt zu sein: Im Netz kursieren Berichte vom Bau eines Fußballstadions durch den IS, in dem Spiele stattfinden. Dass die islamistische Ideologie nicht nur im Nahen und Mittleren Osten angesichts der dort oft konfessionell aufgeladenen Politisierung des Fußballs auf fruchtbaren Boden fallen könnte, sondern auch vor der eigenen Haustüre, ließ sich beispielsweise im Oktober bei einem Länderspiel der Türkei gegen Island beobachten. Dort waren während der Schweigeminute für die Opfer der Anschläge von Ankara Pfiffe und »Allahu akbar«-Rufe türkischer Nationalisten und islamistischer AKP-Anhänger zu hören.
Betrachtet man die perfide Strategie des IS, mit Anschlägen nicht nur Mord, Angst und Panik zu verbreiten, sondern auch die schon bestehenden sozialen Konflikte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Europa zu verschärfen, und berücksichtigt dabei das taktische Verhältnis der Islamisten zum Fußball, so lässt sich für die Selbstmordattentate vor dem Stade de France ein weiterer Beweggrund anführen. Wie Dorsey mit Blick auf Frankreich feststellte, entladen sich gerade dort soziale Spannungen immer mehr beim Fußball. Vor allem arabischstämmige Fußballfans feuerten bei Länderspielen nicht mehr die Equipe Tri­colore an, die vielen nicht zu Unrecht beim Gewinn des WM-Titels von 1998 noch als Symbol einer kosmopolitischen Gesellschaft und gelungener Integration galt. Sie unterstützen lieber die Nationalmannschaften der Herkunftsländer ihrer Eltern. 2009 etwa feierten Zehntausende algerischstämmige Franzosen während der Play-offs zur WM 2010 den Sieg Algeriens über Ägypten, anstatt die französische Mannschaft bei deren entscheidendem WM-Qualifikationsspiel gegen Irland zu unterstützen. Und erst 2014 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen arabischstämmigen Fußballfans und der Polizei, nachdem die algerische Nationalmannschaft es ins WM-Achtelfinale geschafft hatte. Diese Abkehr von der französischen Nationalmannschaft deutet Dorsey als Abkehr von den Idealen der französischen Republik: Vielen arabischstämmigen Fußballfans scheint die französische Nationalmannschaft nur noch Sinnbild für einen verhassten Staat zu sein, den sie als einzigen für ihre Marginalisierung und Stigmatisierung verantwortlich machen.
Die Selbstmordattentate vor dem Stade de France dürften damit nicht nur zum Ziel gehabt haben, einfach wahllos Fußballfans mit in den Tod zu reißen, sondern scheinen auch ein publicityträchtiges wie warnendes Zeichen für jene arabischstämmigen Fußballfans gewesen zu sein, die sich noch nicht radikalisiert haben, aber die französische Republik und deren Ideale ablehnen: Seht her, wir wissen, was gerade in Frankreich passiert. Was dies im Hinblick auf die EM 2016 bedeutet, die ja in Frankreich stattfinden soll, ist unklar. Dass selbst das Länderspiel der deutschen Mannschaft gegen die Niederlande in Hannover wegen einer Terrordrohung abgesagt werden musste, verheißt allerdings nichts Gutes.