Ein Treffen mit ehemaligen Partisaninnen und Partisanen im italienischen Reggio Emilia

Auf den Spuren von Stella Rossa

Eine Wanderung auf den Partisanenwegen in Reggio Emilia erinnert an die italienische Resistenza.

Von der Wand des ehemaligen Verwaltungsgebäudes der Officine Meccaniche Reggiane leuchtet das Bild einer schwangeren Frau, die mit beiden Armen ihren Bauch hält. Ihr Kopf und Oberkörper wurdn auf das leerstehende Gebäude gemalt, in der Mitte des Bauches befand sich bis vor kurzem eine Marienstatue. Einen Tag nach der Absetzung von Benito Mussolini am 25. Juli 1943 streikten und protestierten Tausende Menschen in Italien, so auch in der großen Fabrik am Bahnhof von Reggio Emilia. Das faschistische Militär ging damals brutal gegen die Streikenden vor und erschoss neun Menschen, darunter die junge Frau, deren Bild an der Wand zu sehen ist – Domenica Secchi.
Der Geschichte von Domenica Secchi und den Fabrikaufständen, die Geschichten verschiedener Partisaninnen und Partisanen, Widerständlerinnen und Widerständler sowie der Opfer des Faschismus in Reggio Emilia wurde vor kurzem mit einem Projekt des Gedenk- und Forschungsinstituts Istoreco gedacht. Monatelang zierten große Spruchbänder von wechselnden Namen einen zentralen Platz der Stadt. Darüber hinaus wurden mit einem lokalen Künstler dokumentarische Kurzgeschichten zu den Personen in einem Buch veröffentlicht.
Istoreco wurde 1965 gegründet, damals noch mit einem Grundarchiv von 100 000 Dokumenten der Partisaninnen und Partisanen. Heutzutage kann das Institut auf ein großes historisches Archiv zurückgreifen, das über Jahrzehnte angewachsen ist, und verfügt über 20 feste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bildungs- und Erinnerungsarbeit sind zentral für das Institut. Es begleitet Projekte wie die Verlegung von Stolpersteinen und bietet verschiedene Workshops und Bildungsreisen an. Dabei arbeitet das Institut von Anfang an mit ehemaligen Partisanen zusammen. Bis heute werden regelmäßig Zeitzeugengespräche organisiert. Mit »Sentieri Partigiani« bietet Istoreco zudem jährlich eine Wanderung auf den Spuren der Partisaninnen und Partisanen an.

Steffen Kreuseler, Mitarbeiter des eigenständigen Kulturvereins und Mitorganisator der Wanderung, sieht seine Arbeit als wichtigen Beitrag zur Erinnerung an einen Teil »antifaschistischer Geschichte«.
Die italienische Resistenza entstand in etwa mit Beginn der deutschen Besatzung Italiens ab dem 8. September 1943. Vorangegangen war die Absetzung Mussolinis durch den italienischen König. Die Freude in der Bevölkerung war groß. Der Krieg hatte an ihr gezehrt, aber die Versorgungsprobleme wuchsen stetig; nun schien die Hoffnung auf Frieden durch das Ende der Mussolini-Ära berechtigt. Doch dazu sollte es nicht kommen. Die Proteste, Besetzungen und Ausschreitungen in ganz Italien können als einer der vielen Ausgangspunkte des Widerstands der Partisaninnen und Partisanen bezeichnet werden. Mit der Gefangennahme Mussolinis entstand eine chaotische Situation, da unklar war, wie es im Land weitergehen würde. Der italienische Faschismus schien für kurze Zeit am Ende, bis die Deutschen das Staatsgebiet besetzten. Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen diese kurze Zeitspanne zum Anlass, um gegen Krieg, Hunger und für eine friedliche Zukunft in ihrem Land zu protestieren. Als diese Proteste gewaltsam niedergeschlagen wurden und die Deutschen die Führung an sich rissen, ging eine große Zahl der Arbeiter in den Widerstand.
Francesco Bertacchini ging mit 16 Jahren »in die Berge«, wie er den Weg zu den bewaffneten Gruppen nennt. Auch er hatte genug vom Krieg – und den dumm daherredenden faschistischen Jugendlichen in seiner Stammkneipe, die mit ihren angeblichen Triumphen über die Partisanen prahlten. Gemeinsam mit seinem Freund Armando, dessen Onkel ihnen den Kontakt zu den Partisanen vermittelte, begab er sich auf einen tagelangen Fußmarsch durch die Hügellandschaft um Reggio Emilia. Nach mehreren Tagen erreichten die beiden jungen Männer endlich eine bewaffnete, kommunistische Einheit, der sie sich anschlossen. Francesco wählte den Kampfnamen »Volpe«, der Fuchs. Tiernamen seien besonders zu Beginn der Resistenza sehr beliebt, später dann seien Namen wie »Stalin« oder »Pfeil« en vogue gewesen, erzählt er heute.
Steffen Kreuseler ist es sehr wichtig zu vermitteln, wie die verschiedenen Lebensrealitäten und Beweggründe der oftmals sehr jungen Menschen aussahen, die sich dem bewaffneten Widerstand anschlossen. Bei vielen wuchs das antifaschistische Selbstverständnis erst mit dem aktiven Widerstand. Doch auch in den kommunistischen Einheiten waren nicht alle schon vor dem Krieg politisch. Erst der Krieg und die Besatzung politisierten viele Menschen und ließen sie gegen ihre faschistische Sozialisation rebellieren.

Nach dem Krieg wurde die offizielle Zahl der Menschen, die sich dem Widerstand angeschlossen hatten, auf knapp 186 000 Menschen beziffert. In der Nachkriegszeit wurden diese Zahlen nach strengen militärischen Kriterien errechnet – war die Person Mitglied einer bewaffneten Einheit? Wie lange? Nahm sie an bewaffneten Auseinandersetzungen teil? Es ist auch dieser Blick, der symptomatisch für die männliche Wahrnehmung des Widerstands ist. So waren die Männer zur Zeit der Gründung der Partisaneneinheiten einer Wehrpflicht unterworfen, konnten sich also nicht frei bewegen, ohne Gefahr zu laufen, von faschistischen Militärs eingezogen zu werden. Auch dies führte viele in die Berge. Frauen hingegen waren dieser Pflicht nicht unterstellt, was ihnen die Möglichkeit des freien Wanderns zwischen den Dörfern, Hügeln und den Partisaneneinheiten ermöglichte – und sie zu den Botinnen, sogenannten Stafetten, machte. Nach dem Krieg wurden diese Leistungen nicht immer als solche anerkannt. Viele Frauen lebten in großer Armut.
»Neun Tage nach der Befreiung stand ich bis zum Knie im Reisfeld und habe gearbeitet«, sagt Giovanna Quadreri. Die ehemalige Partisanin beschreibt ihren Wunsch nach Normalität nach dem Krieg. Für sie bestand diese vor allem im Broterwerb durch harte, körperliche Arbeit. Wie viele Partisaninnen und Partisanen wuchs sie in einer armen italienischen Bauernfamilie in den Bergen auf. Bereits mit neun Jahren, nach dem Besuch der Grundschule, arbeitete sie mit ihrer Familie auf den Feldern, später als Krankenschwester. Ihre Geschichten sind geprägt von Erzählungen über die Arbeit – ihr Vater versuchte in den italienischen Kolonien Geld zu verdienen. Ihre Brüder wurden trotz Gegenwehr eingezogen. Das führte zu Giovannas Einstieg in den Widerstand. Sie beschloss, ihren Brüdern bei der Flucht aus der Kaserne zu helfen. Mit dem Fahrrad und Zivilkleidung im Gepäck fuhr sie von Reggio Emilia bis nach Modena und konnte den Brüdern zur Flucht verhelfen. Unter dem Kampfnamen »Libertà« (Freiheit) pendelte sie später zwischen den Partisaneneinheiten und den britischen Alliierten und überbrachte Botschaften auf Zigarettenpapier. Später, kurz vor Kriegsende, beteiligte sie sich an der Sprengung einer zentralen Versorgungsstraße der Deutschen. Diese Tat steht mit großen Buchstaben in ihrer Kartei aus den Verwaltungsdokumenten der Partisanen. Bis 2004 erzählte sie nicht von ihrer Beteiligung am Widerstand, sie hatte es stets als nichts Besonderes wahrgenommen.
Ein kleiner Obelisk mit einem roten Stern auf der Spitze steht auf dem Gipfel des Monte Sole, 25 Kilometer südlich von Bologna. Darauf befinden sich zwei Inschriften. »Ewiger Ruhm den Partisanen, die sich in ihrem Widerstand an diesem Berg für die Freiheit und Unabhängigkeit Italiens aufopferten« auf der einen und »In Gedenken an die unschuldigen Männer, Frauen und Kinder, die Opfer der Grausamkeit und des Hasses des Nazifaschismus geworden sind« auf der anderen Seite.
Lässt man den Blick von hier aus über den Horizont schweifen, ahnt man, wo ab dem Spätsommer 1944 die Grenze zwischen dem bereits durch die Alliierten befreiten Teil des Landes und dem noch immer von deutschen Einheiten besetzten Teil verlief. Als Reaktion auf die Landung der Alliierten im Sommer 1943 auf Sizilien ließen die Deutschen die sogenannte Goten-Linie errichten, eine Verteidigungslinie, die sich quer über die Kämme des Apennin erstreckte und dazu dienen sollte, einen alliierten Vormarsch in der Po-Ebene aufzuhalten.
Doch nicht nur das Vorrücken der Alliierten machte der deutschen Besatzung zu schaffen. Die Bergregionen waren bevorzugtes Operationsgebiet diverser Partisaneneinheiten, die hinter der Front gegen die Deutschen kämpften. Und so agierte auch hier in den Tälern um den Monte Sole im Spätsommer 1944 eine schlagkräftige Partisaneneinheit, die den Namen »Stella Rossa« trug und zu diesem Zeitpunkt aus bis zu 800 Partisanen, darunter 90 Frauen, bestand.
Schaut man auf die unmittelbare Umgebung der Hänge des Monte Sole, so fällt zunächst lediglich die vielseitige und stellenweise unberührt wirkende Landschaft der Täler links und rechts des Berges auf. Von den Dörfern Carpara, Cerpiano und Casaglia, die vor dem 29. September 1944 wegen ihrer erhöhten Lage in den Bergen für die Bewohner des Umlandes als Zufluchtsorte vor den alliierten Bombardierungen dienten, ist nichts mehr zu sehen als ein paar Steinmauern.
Vom 29. September bis zum 1. Oktober 1944 führten hier SS-Einheiten eine Vergeltungsaktion durch, die der Zivilbevölkerung als solcher galt. Innerhalb von vier Tagen löschten sie fast alles menschliche Leben in diesem Gebiet auf brutalste Weise aus. Insgesamt 771 Menschen wurden bei diesem größten Kriegsverbrechen während der deutschen Besatzung Italiens, dem Massaker von Marzabotto, ermordet.

Eine der wenigen Personen, die dieses Massaker überlebt haben, war die Ordensschwester Antonietta Benni. In ihren Aufzeichnungen erzählt sie unter anderem von der Erschießung von 84 Personen auf dem Friedhof von Casaglia, nur wenige Hundert Meter vom Gipfel des Monte Sole entfernt. Während neben den Partisanen vor allem der männliche Teil der Zivilbevölkerung Schutz an den steilen Hängen des Gipfels suchte, versammelten sich in der Kirche von Casaglia jene, die bei bisherigen Razzien und Durchkämmungsaktionen der Deutschen weitestgehend verschont geblieben waren: Frauen, Kinder und Alte. Doch eben diese brachten die anrückenden deutschen Einheiten an jenem Tag zum nahe gelegenen Friedhof. Dort pferchten sie sie auf den Stufen der kleinen Kapelle zusammen, »die Großen hinten, die Kleinen vorne«, wie sich eine Überlebende erinnert. Dann platzierten sich die Soldaten in der Hocke, um besser zielen zu können. Überlebt hat nur, wer geschützt durch die bereits über ihm liegenden Leichen zufällig von keiner Maschinengewehrsalve getroffen wurde.
Auf der Piazza Camillo Prampolini schräg gegenüber dem Dom steht das Rathaus von Reggio Emilia. Hier, wo sich seit jeher das wirtschaftliche, politische und religiöse Leben der Stadt abspielt, treffen wir uns mit Matthias Durchfeld, einem weiteren Mitarbeiter von Istoreco, zum Stadtspaziergang. An den Wänden unter dem von Säulen getragenen und mit Rundbögen versehenen Vordach des Rathauses hängen verschiedene Marmorplatten. Neben einer, die an die Gräuel der deutschen Besatzung und den antifaschistischen Kampf der Partisanen erinnert, hängt eine weitere Platte, auf der die Ergebnisse des Referendums vom 2. Juli 1946 aufgelistet sind. An diesem Tag wurde über die zukünftige Staatsform Italiens entschieden.
Fiel das Ergebnis auf landesweiter Ebene mit 54 Prozent der Stimmen für die Republik noch verhältnismäßig knapp aus, sprachen sich in der Provinz Reggio Emilia etwa 75 Prozent der insgesamt 220 000 Wahlberechtigten für die Republik als zukünftige Staatsform aus. Dass diese hohe Zustimmung nicht dem Zufall geschuldet ist, zeige, wie Matthias Durchfeld erzählt, ein Blick in die Vergangenheit der Region. Etwa Mitte des 19. Jahrhundert begann die Sozialistische Bewegung hier mit dem Bau von Volksschulen, ermöglichte somit eine weitgehende Alphabetisierung der Bevölkerung und schuf somit gleichzeitig eine stetig wachsende Wählerschaft für die 1892 gegründete Sozialistische Partei. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Stadt durchgehend von einem der Sozialistischen Partei angehörenden Bürgermeister regiert.
Als sich 1921 als Abspaltung der Sozialistischen die Kommunistische Partei Italiens (PCI) gründete, fand diese in Reggio Emilia großen Zulauf. Einen wesentlichen Faktor hierfür stellten die Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten Reggiane-Werke dar. Die Geschichte der seit über einem Jahrzehnt stillgelegten und mittlerweile zum Teil stark heruntergekommenen Reggiane-Werke lässt sich anhand von Wandbildern an den Backsteinmauern des Geländes nachvollziehen. Ursprünglich wurde die Fabrik für die Produktion von Eisenbahnteilen erbaut, nach der Machtübernahme der Faschisten wurde sie allmählich auf Rüstungsproduktion umgestellt. Während des in den dreißiger Jahren stattfindenden Modernisierungsschubs der Industrieproduktion wuchsen die Reggiane-Werke mit ihren 12 000 Arbeiterinnen und Arbeitern zur viertgrößten Fabrik des Landes und stellten schließlich in erster Linie Kampfflugzeuge her. Nach dem Ende des Kriegs wurde im Jahr 1946 auf Zivilproduktion umgestellt. Aufgrund des noch immer starken PCI, dessen Strukturen den Faschismus in der Illegalität überdauert hatten, und der sich deshalb rasch zu einer Massenpartei entwickelte, wurden den Reggiane-Werken staatliche Subventionen seitens der Zentralregierung verwehrt. Die ausbleibende Finanzierung führte schließlich 1950 zur längsten Fabrikbesetzung des Landes; 18 Monate dauerte die Besetzung, während derer, als Sinnbild für den Fortschritt des Sozialismus, Traktoren für die Landwirtschaft produziert wurden.

Doch während die Fabrikbesetzung seitens der Zentralregierung schlichtweg ausgesessen wurde und den allmählichen Beginn des Niedergangs der Reggiane-Werke markierte, begannen etwa zur selben Zeit Frauen aus der Unione Donne Italiane (Union italienischer Frauen, UDI) eigene politische Forderungen zu stellen. Die in der UDI organisierten Frauen waren größtenteils bereits während der deutschen Besatzung Mitglieder in den klandestin agierenden »Gruppi di difesa della donna«, den Frauenverteidigungsgruppen, gewesen und haben dort zumeist zum ersten Mal die Erfahrung, selbst für ihr Leben verantwortlich zu sein, gemacht. Da sie sich nach der Befreiung nicht in die alten patriarchalen Familienstrukturen zurückdrängen lassen wollten, begannen sie mit dem Aufbau selbstverwalteter »Volkskindergärten«. Als diese, wie Matthias Durchfeld beim Verlassen des Fabrikgeländes erzählt, nach einiger Zeit wegen mangelnder Finanzierbarkeit geschlossen zu werden drohten, forderten die Frauen kurzerhand die Kommunalisierung der Kindergärten. Der UDI gelang es letztlich, den lokalen PCI dermaßen unter Druck zu setzen, dass dieser – entgegen dem geltenden nationalen Recht – mit der Kommunalisierung der Kitas begann.
Dass die Arbeit von Istoreco weitgehend wohlwollend seitens der Zivilgesellschaft angenommen wird, ist nicht zuletzt dem besonderen politischen Klima der Stadt zu verdanken, die immerhin seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Kollaps des PCI im Jahr 1991 von eben dieser regiert wurde.
Doch damit das Wissen um die umkämpfte Geschichte dieser Region mit dem damit verbundenem Leid und den ihr zugrundeliegenden Opfern aufrechterhalten und erfahrbar gemacht werden kann, muss diese Geschichte nicht nur erzählt werden, sie muss auch sichtbar sein. Unser Spaziergang durch die Stadt endet deshalb auch auf einem kleinen Platz hinter dem Bahnhof, in einem ehemaligen Arbeiterviertel. In unmittelbarer Sichtweite der hinter den Bahngleisen aufragenden Reggiane-Werke wurde hier vor einigen Jahren auf Druck von Istoreco ein Denkmal wiedererrichtet, das bei der Neugestaltung des Platzes seitens der Stadt verloren gegangen war. Seitdem wird an diesem Ort wieder an die Gruppe von streikenden Arbeiterinnen und Arbeiten der Reggiane-Werke erinnert, die gegen Krieg und Faschismus demons­trierten und dafür am 28. Juni 1943 vom faschistischen Militär erschossen wurden, hier, an der Piazza Domenica Secchi.