Flüchtlinge in der Türkei

Zum Bleiben verpflichtet

Die Türkei hat der Europäischen Union zugesagt, Flüchtlinge an der Ausreise zu hindern. Wer im Land bleiben muss, hat kaum Perspektiven.

»Vielen Dank, dass wir hier lernen dürfen«, rufen die rund 350 Kinder und Jugendlichen zum Abschluss des Morgenappells. Sie stehen in Reih und Glied auf dem beengten Hof der Don-Bosco-Schule für Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien. Ninos, ihr 20jähriger Sportlehrer, verliest die Namen. Das grün getünchte Gebäude der römisch-katholischen Salesianer-Gesellschaft befindet sich in einer Seitengasse nahe des Taksim-Platzes in Istanbul.
Eine Schule können in der Türkei nur wenige junge Geflüchtete besuchen. 400 000, weit mehr als die Hälfte der syrischen Kinder in der Türkei, gehen einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) zufolge nicht zur Schule. Die türkische Regierung gewährt den nach offiziellen Angaben 2,2 Millionen Syrerinnen und Syrern im Land keinen Flüchtlingsstatus, sondern nur »vorübergehenden Schutz«. Wie die meisten aus dem Irak, Iran und afrikanischen Ländern müssen auch Flüchtlinge aus Syrien oft illegal einreisen. HRW berichtet, dass syrische Flüchtlinge bereits seit März zurück an die Grenze geschickt werden. Nur in den Provinzen Antakya und Kilis gebe es geöffnete Grenzübergänge.
Auch Geflüchtete, die legal in der Türkei sind, leben unter menschenunwürdigen Bedingungen. Eine Arbeitserlaubnis erhalten sie nicht. Die meisten Erstaufnahmelager befinden sich im Osten des Landes, sie sind häufig überfüllt und die medizinische Versorgung ist dürftig. Viele versuchen, aus dem Osten der Türkei in die großen Städte zu gelangen, berichtet Nora Freitag vom Migrants Solidarity Network, die in den vergangenen drei Jahren in der Türkei gelebt hat. Die meisten Geflüchteten in den Städten lebten zunächst auf der Straße oder in Bauruinen, um eine Wohnung müssten sie sich selbst kümmern – und um Geld für die Miete, das sie nur illegal verdienen können. Sie sind für einen niedrigen Lohn oft in der Textilbranche oder als Tellerwäscher tätig.

Diese problematische Situation wurde auch auf dem EU-Sondergipfel am Sonntag in Brüssel mit der Türkei besprochen. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben allerdings vorrangig andere Interessen. Sie fordern eine Unterbindung der unkontrollierten Migration aus der Türkei in den Schengen-Raum, zudem sollen Flüchtlinge in die Türkei abgeschoben werden können. Dem hat die türkische Regierung zugestimmt, als Gegenleistung erhält sie unter anderem drei Milliarden Euro aus einem europäischen Fonds, um eine bessere Versorgung in den Aufnahmelagern zu gewährleisten, etwa durch den Bau von Schulen. Eigenen Angaben zufolge hat die Türkei bereits sieben Milliarden Euro für Flüchtlinge ausgegeben. Wenn die Migration zurückgeht, sollen Bürger und Bürgerinnen der Türkei spätestens ab Herbst 2016 visafrei in die EU einreisen können. Am 14. Dezember soll zudem im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen Kapitel 17 über die Wirtschafts- und Währungspolitik eröffnet werden.
Vor dem Gipfel vom Sonntag hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan bekräftigt, er werde »eine neue Immigrationswelle« mit allen notwendigen Mitteln verhindern. Bereits kurz nach Abschluss des Gipfels wurden nahe der Stadt Ayvacık 1 300 Flüchtlinge auf dem Weg nach Griechenland festgenommen.

Die Flüchtlinge werden so zur Verhandlungsmasse. Doch es gibt Ansätze der Selbstorganisation. Via Facebook bauen die Menschen auf der Flucht Netzwerke auf. Die Mitglieder nutzen die Gruppen als Börse für Kontakte nach Europa, teilen GPS-Daten der Aufenthaltsorte und berichten, wie viel Zeit für welche Route benötigt wird. Es werden auch politische Forderungen gestellt. Im September gründeten Flüchtlinge etwa die Kampagne »Crossing no more«. Hunderte Menschen hatten sich Mitte September im Grenzort Edirne versammelt, um von dort aus über die Autobahn in Richtung Griechenland zu marschieren. Auch am Busbahnhof von Istanbul trafen sich Geflüchtete, um gemeinsam zur Grenze zu fahren. Sie forderten eine sichere und freie Einreise in die EU über den Landweg. Eine außerordentliche Passkontrolle wurde zum Anlass genommen, die Fahrt zu verweigern. Vom Busbahnhof aus machten sich etwa 150 Menschen zu Fuß auf den Weg nach Edirne. Der Marsch wurde gewaltsam von der Polizei aufgelöst. Die Menschen wurden in Bussen abtransportiert und es kam zu Verhaftungen.
Polizeigewalt wird häufiger angewendet werden, wenn die Ausreise von Flüchtlingen verhindert werden soll. Nur eine Minderheit kann mit einem Visum Australiens, Kanadas, der USA oder mit einer der von der EU in Aussicht gestellten Einreisegenehmigungen rechnen. Einige Familien sind bereits seit Jahren im Land. Wer bleiben muss, ist meist auf Hilfsangebote angewiesen.

»Hast du noch was anderes?« Mit großen Augen schaut der Junge seine Mitschülerin an, sie gibt ihm den kleinen verpackten Kuchen und schüttelt den Kopf. Eine echte Pause mit warmen Mahlzeiten gibt es nicht. Die raschelnden Tüten weisen ein längst vergangenes Verfallsdatum auf, es sind Spenden eines Supermarktes. Die Kinder der Don-Bosco-Schule leben mit ihren Familien in beengten Wohnungen im nahegelegenen Kurtuluş. Häufig müssen sie die Zimmer mit vielen anderen teilen. Fast alle Lehrkräfte sind selbst geflüchtet, viele sind kaum älter als ihre ältesten Schüler. Die Stimmung unter den Kindern ist angespannt, oft haben sie Konzentrationsschwierigkeiten. »Wenn sie kommen«, erzählt Ninos, »haben sie noch Lust und sind diszipliniert, je länger sie da sind, desto frecher und lustloser werden sie.« Das Unterrichten ist für ihn vor allem eine sinnstiftende Beschäftigung in einem Land, das ihm keine Bleibeperspektive gewährt.