Eine Ausstellung zum Schaffen Arno Schmidts »In 100 Stationen«

About Schmidt

Zettelkasten, Lederjacke, Aspirinschachtel und Eingemachtes aus dem Keller: 100 Ausstellungsstücke repräsentieren das Schaffen von Arno Schmidt.

Ein Jahr nachdem er 100 Jahre alt geworden wäre, hat die Berliner Akademie der Künste Arno Schmidt eine Ausstellung gewidmet, die in 100 Stationen das Leben des Schriftstellers anhand ausgewählter Objekte präsentiert. Der 1914 geborene Schmidt wurde als Sohn eines Polizeioberwachtmeisters im Arbeiterviertel Hamburg-Hamm geboren und wuchs in einem illiteraten Haushalt auf. Trotzdem begann er früh zu lesen, eigener Aussage zufolge mit drei Jahren, und begeisterte sich beispielsweise für Jules Vernes »20 000 Meilen unter dem Meer«. Nach dem Tod des Vaters zog die Mutter Clara ins damalige Schlesien, Schmidt erwarb 1933 das Abitur und begann im Jahr darauf eine kaufmännische Lehre. Während der Ausbildung lernte er die Sekretärin Alice Murawski kennen, die beiden heirateten. Ab 1940 war Schmidt Angehöriger der Wehrmacht und die meiste Zeit in Norwegen stationiert, wurde aber aufgrund seiner starken Kurzsichtigkeit vor allem im Schreibstubendienst eingesetzt. Zu Kriegsende befand er sich in englischer Kriegsgefangenschaft, während Alice Schmidt aus Schlesien Richtung Westen floh, im Rucksack einige kleinere schriftstellerische Arbeiten ihres Mannes und die 36bändige Ausgabe der Werke von Christoph Martin Wieland.
Schmidt hatte sich Wieland als seinen Klassiker gewählt. Goethe schätzte er auch, vergaß aber nicht, bei Gelegenheit gegen diesen zu polemisieren. Der DDR-Dramatiker Peter Hacks, selbst ein erwiesener Kenner Wielands, bezeichnete Schmidt als den besten deutschen Epiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; und der Wieland-Forscher Jan Philipp Reemtsma bereitete in den Siebzigern den materiellen Sorgen Schmidts mit einer finanziellen Unterstützung in Höhe des Preisgeldes für den Nobelpreis ein Ende. Schmidt war Wieland und der Aufklärung verbunden – mit allen Eigenheiten, die ein solches Vorhaben im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Extreme, mit sich bringt, so dass man von Schmidt als einem verschrobenen Aufklärer sprechen kann. Er sagte über seine literarischen Bemühungen in der »Wildnis der Worte«, dass er der »Topograph der horizontalen Höllenstürze« sei, der »nebenher stürzt und aus seinen Adern mitstenographiert«. Schmidt hatte ein ausgeprägtes Bewusstsein für das, was Theodor W. Adorno die Notwendigkeit zum Herausarbeiten aus der Barbarei nach dem Nationalsozialismus nannte. Schmidt war ein entschiedener Gegner der Wiederaufrüstung der BRD, der Gründung der Bundeswehr und der Restauration der Ära Adenauer. »Wenn ich nicht schon von Geburt Atheist wäre, würde mich der Anblick Adenauer-Deutschlands dazu machen!« schreibt er in den fünfziger Jahren und sagt: »Ein guter Schriftsteller darf weder haben: Freund, noch Vaterland noch Religion.«
Seine frühen Werke wie »Leviathan« (1949), »Brand’s Haide« (1951), »Die Umsiedler« (1953) und »Aus dem Leben eines Fauns« (1953) beschäftigen sich mit Krieg und Vertreibung. In den darauf folgenden Arbeiten wie »Das steinerne Herz« (1956) und »Die Gelehrtenrepublik« (1957) ist die damalige Situation der BRD deutlicher auszumachen, der Stil schärft sich, wird experimenteller – ohne das Experiment als Selbstzweck zu betreiben. Anlässlich von »KAFF auch Mare Crisium« (1960) erläutert Schmidt in einem Fernsehinterview, dass seine eigenwillige Orthographie zwar »keine Rechtschreibung, aber keine Unrechtschreibung« sei. Er entwickelt aus dem Phonetismus assoziative Bedeutungen. Beispielsweise wandelt er die Kriemhild des Nibelungenliedes zu Cream=hilled oder Kultur zu Kull=Tour, was er mit dem Begriff der Kulturindustrie von Horkheimer und Adorno erläutert, oder schreibt Kann=Arien­=Vo­gel. Auch bedient er sich zahlreicher dialektaler Eigenheiten und nutzt Satzzeichen als eigenständige Bildzeichen. Vorbilder solcher Verfahrensweisen sieht er unter anderem bei Friedrich Gottlieb Klopstock.
Besonders verdient gemacht hat sich Schmidt durch seine Arbeiten zu unbekannten oder vergessenen Autoren wie Karl Philipp Moritz, dem Autor des psychologischen Romans »Anton Reiser«. Auch die weniger bekannten Werke Karl Mays diskutierte Schmidt unter anderem in seiner Studie »Sitara und der Weg dorthin«, die sexuelle Motive in den Landschaftsbeschreibungen Mays vermutet. Als Übersetzer war er ebenfalls tätig, bekannt sind seine Übertragungen von James Fenimore Cooper und Edgar Allan Poe.
Schmidt verfasste zudem glänzende Rundfunkessays, in denen er auf ansprechende Weise Literatur diskutierte jenseits verdinglichter Gelehrsamkeit. So bezeichnete er Adalbert Stifter, den Verfasser des oft als langweiligstes Buch der Literaturgeschichte geschmähten und wegen seiner erzählerischen Qualität doch ebenso oft gerühmten Buches »Der Nachsommer«, als »sanften Unmensch«, was immerhin in der an Aufregung nicht unbedingt sehr reichen Stifter-Rezeption für einige derselben gesorgt hat.
Schmidt bewirkte im Allgemeinen zwar nicht ungern Aufregung, schätzte sie persönlich jedoch wenig. Er benötigte dringend Ruhe für seine Arbeit. Nachdem die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Gotteslästerung und Verbreitung von Pornographie wegen seines Buches »Seelandschaft mit Pocahontas« ermittelte, siedelte er von Kastel an der Saar in das protestantische und im Umfeld der Neuen Darmstädter Sezession liberalere Darmstadt um. Doch schon bald suchte er nach einer ländlichen Alternative, die er in Bargfeld fand. Für das 350-Einwohner-Dorf bei Celle, im Süden der Lüneburger Heide, sprach nach Schmidt die Abwesenheit einer Durchgangsstraße, daher »absolute Stille«, bei »Wahlen 30 % SPD-Stimmen« und »keine Kirche (!)«. Das Haus in Bargfeld, umgeben von einem eigens aufgestellten Zaun, bot die Möglichkeit, intensiv an »Zettel’s Traum« zu arbeiten, ein Buch, das 1 300 DIN A3-Seiten umfasst und aus 120 000 Zetteln des berühmten Schmidtschen Zettelkastens entwickelt wurde. In der Regel wird das Buch mit diesen quantitativen Kategorien beschrieben, weil kaum ein Mensch behaupten kann, »Zettel’s Traum« tatsächlich gelesen zu haben; der Autor dieses Textes ist da keine Ausnahme.
Die Ausstellung führt in das Leben und Werk Schmidts ein. Seine Lederjacke, der Zettelkasten, Zeichnungen und Notizen und die Pocahontas-Figur ergeben verbunden mit Zeugnissen aus Tagebüchern und Werken einen sehr umfassenden Eindruck. Gläser mit Eingemachtem und von Schmidt selbstgeschnitzte Holzlöffel zeigen das materielle Elend, in dem Schmidt die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Der 1979 Verstorbene veröffentlichte politische Essays unter dem Titel »Deutsches Elend«, zu deren Lektüre zu raten ist. Das betrifft aber auch die restlichen Werke. Schmidt schrieb: »Im Leben kann man höchstens 100 Autoren richtig kennenlernen, mehr Zeit hat man nicht.« Bei höchstens 100 Autoren wäre sehr zu empfehlen, Arno Schmidt nicht an letzter und auch nicht an vorletzter Stelle kommen zu lassen, denn seine literarische Vorstellungskraft und der sprachliche Witz sind bis heute unübertroffen. Dass Schmidt bei all dem auch ein eigenartiger Mensch war, zeigt die Ausstellung ebenso. Das war ihm selbst wohl bewusst: »Der Künstler hat nur die Wahl, ob er als Mensch existieren will oder als Werk. Im zweiten Fall besieht man sich den defekten Rest besser nicht.«

Arno Schmidt. Eine Ausstellung in 100 Stationen. Akademie der Künste, Berlin. Bis 10. Januar 2016