Weeda Ahmad, Hafiz Tasikh und Mariam Rawi im Gespräch über die afghanische Opposition und die Entwicklung seit dem Ende der Taliban-Herrschaft

»Überall Korruption«

Ende November wurde eine Verlängerung der von der Bundeswehr im Norden des Landes angeführten Nato-Mission in Afghanistan bis 2017 beschlossen. Die Lage ist alles andere als sicher dort, Gewalt ­gegen die Bevölkerung ist an der Tagesordnung. Nicht nur Milizen traditioneller warlords und die Taliban terrorisieren sie, sondern neuerdings auch Banden, die sich dem »Islamischen Staat« (IS) zurechnen. Auch ausländische Soldaten begehen immer wieder Menschenrechtsverletzungen. Trotz der gefährlichen Situation will die Bundesregierung wieder mehr Asylsuchende nach Afghanistan abschieben. Die ­Jungle World sprach mit afghanischen Oppositionellen, die auf einer Vortragsreise in Deutschland waren, über die Zustände in ihrem Land: Weeda Ahmad ist Direktorin der Social Association of Afghan Justice Seekers (SAAJS), die die Verbrechen aufarbeitet, die durch Vertreter vergangener Regime sowie der heutigen Regierung und ausländische Soldaten begangen wurden. Hafiz Rasikh ist im Vorstand der 2004 gegründeten säkularen Solidaritätspartei Afghanistans. Mariam Rawi (Name auf Wunsch geändert) ist Mitglied der Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (Rawa).

Am 11. November demonstrierten 10 000 Menschen in Kabul gegen Islamisten. Was war der Anlass dieses ungewöhnlich großen Protests?
Rawi: Es war die größte Demonstration seit Jahrzehnten. Damit sollte Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit sie etwas gegen den »Islamischen Staat« unternimmt. Anfang November wurden sieben Buspassagiere in der Provinz Zabul, einer unsicheren Gegend des Landes (Gruppen der Taliban und des IS bekämpfen sich dort gegenseitig, Anm. d. Red.), aus dem Bus ­geholt und geköpft. Es war das erste Mal, dass auch Frauen und ein Kind auf diese Weise entführt und getötet wurden. Das hat die Menschen sehr betroffen gemacht. Es ging aber auch all­gemeiner um Verbrechen gegen die Bevölkerung, die Demonstrierenden forderten den Rücktritt des Präsidenten, einige griffen seinen Palast an. Als sie versuchten, über die Mauer zu klettern, schossen die Wachleute und verletzten sieben Menschen.
Rasikh: Die Ermordeten gehörten der ethnischen Gruppe der Hazara an, der kleinsten afghanischen Minderheit. Wichtig ist dabei, dass die Demonstration von Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen organisiert wurde. Unsere Regierung heißt »Regierung der nationalen Einheit« – aber das ist sie nicht.
Es ist bekannt, dass beim Aufbau des Staats nach dem Ende des Taliban-Regimes 2001 auch warlords integriert wurden. Wie groß ungefähr ist ihr Anteil in den Institutionen?
Rasikh: Der Großteil der Regierung besteht aus solchen Kriegsfürsten. Der Rest sind Personen, die aus dem Ausland gekommen sind, aus den USA oder Deutschland zum Beispiel.
Die Solidaritätspartei ist nur außerparlamentarisch aktiv. Wollen Sie nicht parlamentarisch vertreten sein?
Rasikh: Derzeit sehen wir die Voraussetzungen dafür nicht gegeben. Wir haben gesehen, wie Malalai Joya, die jüngste Abgeordnete, wegen ihrer Kritik an der Regierung rausgeworfen wurde. (Joya erhielt bei den ersten Parlamentswahlen nach dem Ende der Taliban 2005 einen Sitz und wurde 2007 für drei Jahre gesperrt, Anm. d. Red.) Zudem sind viele Abgeordnete nicht wirklich gewählt worden. Sie haben sich die Sitze erkauft oder bekamen sie, weil sie Kriegsfürsten waren. Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, dass wir auf ebensolche Weise ins Parlament gekommen sind. Jeder weiß, dass die Wahlen gefälscht sind und dass es überall Korruption gibt.
Was haben die demokratischen Regierungen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft gegen die Verantwortlichen der Morde, Folter und Entführungen vergangener Regime unternommen?
Ahmad: Zunächst: Wir bezeichnen diese Regierung nicht als demokratisch. Ihre allererste Maßnahme war, die Kriegsfürsten und Kriminellen der Mujahedin-Zeit von 1992 bis 1996 wieder an die Macht zu bringen. Seit sie zurück sind, hat die Missachtung von Frauenrechten zugenommen und die Armut ist schlimmer geworden. Das Gleiche gilt für die Tötung von Zivilisten, sowohl in Kabul als auch in anderen Provinzen – sei es durch das Militär, die Taliban oder staatsnahe Milizen. Letztere sind ein neues Phänomen, weil die Regierung nicht überall Polizei und Militär installieren konnte und deshalb lokale Milizen verpflichtet hat. Auch sie begehen viele Verbrechen.
Rasikh: 2008 hat das Parlament ein Amnestie­gesetz verabschiedet, das allen Kriegsverbrechern Straflosigkeit garantiert.
Was ist denn besser geworden seit dem Ende der Taliban-Herrschaft?
Rawi: Wir haben viel erreicht. Früher kamen nur fünf Prozent der globalen Opiumproduktion aus Afghanistan, jetzt sind es über 90 Prozent. Sogar die Verarbeitung findet bei uns statt. Wir sind das Land, aus dem die meisten Flüchtlinge kommen. Von den 30 Millionen Menschen im Land konsumieren mehr als drei Millionen Drogen – nicht nur wegen der allgemeinen Ausweglosigkeit, sondern auch, weil die Arbeit in der Opiumproduktion süchtig machen kann. Acht Millionen sind erwerbslos. Alle 30 Sekunden stirbt eine Frau wegen mangelnder medizinischer Versorgung. Einigen Studien zufolge ist Afghanistan für ein Mädchen der schlimmste Ort, an dem man geboren werden kann. In manchen Dingen, auch in der Korruption, sind wir also Weltspitze.
Welchen Eindruck haben Sie von den Hilfsorganisationen und dem, was sie erreicht haben?
Rasikh: Die meisten dieser Organisationen errichten keine grundlegende Infrastruktur und arbeiten nicht mit der Basis. Deshalb bringen ihre Projekte der Bevölkerung nichts. Der Großteil ihres Geldes wird für die hohen Einkommen der Angestellten, für die Verwaltung und für Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben. Kürzlich wurde eine Mitarbeiterin der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) entführt. Die GTZ verlegte deshalb ihr Büro nach Dubai. Von dort die Projekte zu betreuen, kostet vielleicht so viel wie der Bau einer Schule oder eines kleinen Krankenhauses in Afghanistan.
Wie sieht die Arbeit von Rawa aus und woher haben Sie die Finanzierung?
Rawi: Wir machen Demonstrationen und Treffen, aber aus Sicherheitsgründen ist das heute kaum noch möglich. Auf unserer Internetseite dokumentieren wir Gewalt gegen Frauen und veröffentlichen Berichte. Wir bieten auch Lesekurse für Frauen an. Durch Bildung können sie sich stärker fühlen und den Mut haben, sich zu organisieren. Aber keine dieser Aktivitäten kann offen unter dem Namen Rawa angeboten werden. Rawa kritisiert seit vier Jahrzehnten die Regierungen, sowohl die der Fundamentalisten als auch die der Besatzer. Wir arbeiten mit keiner Hilfsorganisa­tion zusammen und erhalten von ihnen auch kein Geld. Unsere Arbeit wird von Freiwilligen gemacht, gestützt von einem weltweiten Netzwerk von ebenfalls Freiwilligen mit sehr begrenzten Mitteln.
Sie haben eine Vortragsreise durch Deutschland hinter sich. Welche Eindrücke nehmen Sie mit nach Hause?
Ahmad: Ich war zum ersten Mal in Europa. Es ist wichtig, dass wir einen anderen Eindruck von Afghanistan vermitteln konnten, als ihn die Mainstream-Medien bieten – gerade in einem Land, das Truppen dort stationiert hat. Die meisten der beteiligten Regierungen zeichnen gern ein Bild von Frieden, Stabilität und Demokratie in Afghanistan und stellen das als einen Erfolg ihres ­militärischen Engagements dar.
Rasikh: Es war wichtig zu sehen, wie viele Menschen gegen die Besatzung durch ihr eigenes Militär sind und gegen die Außenpolitik ihrer Regierung. Die meisten Menschen in Afghanistan wissen das nicht. Meine Partei setzt sich für grenzüberschreitende Solidarität ein, und die haben wir hier selbst erfahren.
Rawi: Wir konnten ein Netzwerk von Unterstützern und Freunden aufbauen, die sich stark mit der afghanischen Krise beschäftigen und etwas dagegen tun wollen.