Das Gedenken an Opfer neonazistischer Gewalt in Hamburg

Das bisschen Totschlag

Vor 30 Jahren traten Nazis in Hamburg am S-Bahnhof Landwehr den aus der Türkei Eingewanderten Ramazan Avcı tot. Eine Initiative widmet sich dem Gedenken.

Es war einer der ersten rassistischen Angriffe mit Todesfolge in der alten Bundesrepublik: Am kommenden Montag ist es 30 Jahre her, dass Ramazan Avcı von einer Gruppe Naziskins totgetreten wurde. Am Tatort, auf einer Grasfläche hinter einer Bushaltestelle am S-Bahnhof Landwehr im Hamburger Stattteil Eilbek, wo das Opfer vergeblich versuchte, in einen Linienbus zu flüchten, steht seit drei Jahren ein Gedenkstein. Der Bereich heißt »Ramazan-Avcı-Platz«, wie auch die Vorfläche des Bahnhofausgangs. Zum 25. Jahrestag der Ermordung fanden sich 2010 ein Dutzend Menschen zusammen, gründeten die »Ramazan-Avcı-Initiative« und organisierten eine Gedenkkundgebung.
»Wir hatten klare Forderungen, wie die Straßenumbenennung, die Errichtung einer Gedenktafel und das Wachhalten der Erinnerung«, sagt Ünal Zeran von der Initiative der Jungle World und betont: »Diese Ziele sind erreicht.« Die Gruppe ist etwas geschrumpft, macht aber weiter. »Es geht darum, das Gedenken in den aktuellen politischen Kontext zu setzen und der Familie beizustehen«, so Zeran. Für die meisten aus der Initiative war die Ermordung Avcıs eine Zäsur, die sie damals als Jugendliche erlebt haben. Sie organisierten sich danach in antirassistischen migrantischen Gruppen.
Für aus der Türkei Eingewanderte war die Ermordung von Ramazan Avcı 1985 ein Schock. Die Brutalität, mit der eine Gruppe von Naziskins über Avcı herfiel, war verstörend. Empörung regte sich, weil die Angreifer am frühen Abend auf offener Straße bewaffnet eine regelrechte Hetzjagd auf Avcı veranstalten konnten. Und weil die sehr zurückhaltende Reaktion der Hamburger Polizei und die Verharmlosung des Mordes als »Schlägerei betrunkener Jugendlicher« durch nahezu alle Politiker der in der Hansestadt reagierenden SPD wie auch der FDP und der CDU Bedrohung bagatellisierten.
Avcı hatte gerade sein Auto verkauft, um Geld für ein Kinderbett zu haben. Zuerst wehrten er und seine zwei Begleiter sich mit Pfefferspray, als sie eine Gruppe von bis zu 30 Nazis angepöbelte und angriff. Die Rechtsextremen zogen sich kurz in eine Bahnhofsgaststätte zurück, um von dort – bewaffnet mit Baseballschlägern, Ketten und Axtstielen – zurückzukehren. Avcıs Begleitern gelang es, in einen Bus zu flüchten. Er selbst wurde am Rand der vierspurigen Straße von einem Auto erfasst und fiel zu Boden. Die Nazis prügelten und traten so lange auf ihn ein, bis er tödlich verletzt liegenblieb.
Fünf der Täter wurden festgenommen, aber nach wenigen Stunden wieder entlassen. Einer der vernehmenden Polizeibeamten war der Vater eines mit den Festgenommmenen befreundeten Naziskins. Erst nachdem Avcı im Krankenhaus drei Tage später für tot erklärt worden war, erließ die Staatsanwaltschaft Haftbefehle.
Ein halbes Jahr später wurden die fünf Nazis von einer Jugendkammer wegen gemeinschaftlichen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen zwischen einem und zehn Jahren verurteilt. Der Richter Erich Petersen erkannte zwar, typisch für seine Zeit, ein »oberflächliches Nationaldenken« und eine »latente Abneigung gegen Ausländer« bei den Angeklagten, konnte aber kein rassistisches oder gar nationalsozialistisches Motiv erkennen.

Rassismus und Neonazismus in Deutschland sind seit 1985 nicht verschwunden. Trotz der weitverbreiteten Gewöhnung an rassistische Gewalt und die Existenz von Neonazis hat sich aber die Kritik des Rassismus weiterentwickelt. »Wenn man Rassismus als ein weiteres Herrschaftsinstrument versteht, wie ich es tue, dann gibt es vielleicht seit 1985 kleine Verschiebungen«, so Zeran. »An der Grundkonzeption der Gesellschaft gibt es aber keine Veränderung«, so der damals 14jährige, der heute Rechtsanwalt ist.
Das Narrativ von der nützlichen Einwanderung wird von Konservativen bis hin zur Linken bemüht. Die Gesellschaft formiere sich neu, der Rassismus bleibe, so die Überlegungen in der »Ramazan-Avcı-Initiative«: Es brauche stets identitätsstiftende Momente für die Machterhaltung, die ohne Ausgrenzung nicht möglich sei. Die Modernisierung Deutschlands ist rund um den Gedenkstein zu sehen. Da wird im Bistro »Pink Bambus« zur »Sushi Happy Hour« geladen, und wie zum Hohn auf die Mörder von Avcı gibt es neben dem »Sphinx-Dönerimbiss« auch noch »Sevdas Blumengeschäft«. Zugleich jedoch »vereinnahmt die Willkommenskanzlerin diese helfende Zivilgesellschaft, die unter der Last der Hilfe« zu zerbrechen drohe, »um die massivsten Gesetzesverschärfungen seit 1993 national und auf europäischer Ebene voranzubringen«, so die »Ramazan-Avcı-Initiative« in ihrem diesjährigen Gedenkaufruf mit Blick auf die weiteren Einschränkungen des Asylrechtes.
Der Gedenkstein ist eingerahmt von zwei Sitzbänken. Auf einer Bank sitzt ein Beschäftigter der Müllabfuhr, der auf seinen Bus wartet. Er weiß, für wen der Gedenkstein steht: »Den haben Nazis totgeschlagen, weil er Türke war wie ich.«
An den Tod Avcıs erinnern sich vor allem Eingewanderte. Ohne die »Ramazan-Avcı-Initiative« gäbe es bis heute keinen Gedenkstein. Für Montag, den 30. Jahrestag des Verbrechens, haben sie eine Kundgebung am Ramazan-Avcı-Platz organisiert, auf der die Familienangehörigen und andere Opfer rassistischer Gewalt im Mittelpunkt stehen sollen.