Beim Motörhead-Konzert in Berlin

Der Körper des Rock ’n’ Roll

Motörhead feierten in Berlin das 40jährige Bühnenjubiläum, Lemmy begeht demnächst seinen 70. Geburtstag.
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Normalerweise geht es auf einem 70. Geburtstag ja relativ gediegen zu, schon allein aus Rücksicht auf das fortgeschrittene Alter des Jubilars. Die Party, die ich allerdings am Freitag voriger Woche in der Berliner Max-Schmeling-Halle besucht habe, klingelt und summt mir am Tag danach immer noch in den Ohren. Und das natürlich nicht überraschend, denn das eindeutige Lebensmotto des Mannes, der im Mittelpunkt der Sause stand, prangte ja schon auf den T-Shirts nicht weniger Besucher in großen Lettern: »Everything louder than everyone else«.
Eigentlich habe ich gerade ein bisschen geschwindelt, um einen netten Einstieg in den Text zu finden, was nach 120 Dezibel und dem zweifelhaften Genuss einiger Becher fiesen Konzerthallenbieres gar nicht so einfach war. Denn Ian Fraser Kilmister, genannt »Lemmy«, wird erst am Heiligabend 70 Jahre alt, doch gehört der nahezu alljährliche Auftritt seiner Band Motörhead in Berlin sicherlich zu den rituellen Präliminarien des Kilmisterschen Weihnachtsfests. Ob Lemmy dieser ebenso liebgewordenen wie strapaziösen Gewohnheit aber noch sehr lange wird frönen können? Mir sind da schon während des Konzerts ernste Zweifel gekommen. Denn Lemmy kämpfte sich sicht- und hörbar durch diesen Auftritt, der ihn nahezu überforderte und bei dem doch alles so wie immer war. Das Publikum (mindestens Ü30) wies die typische Motörhead-Mischung auf, viele alte Metal-Haudegen beider­lei Geschlechts in Kutte oder schwarzem T-Shirt mit Snaggletooth-Logo (das Bandmaskottchen, ein stilisierter Wildschweinschädel mit überdimensionalen Hauern und einem Helm), aber auch Soul-Boys in Fred-Perry-Optik und ein paar Punk-Veteranen; über der Bühne schwebte wie immer seit Ende 1979 der riesige, schwenkbare Alurohrnachbau eines Bombers (dessen Linienführung entfernt an den historischen Lancaster-Bomber der Royal Air Force erinnert); auch die Songfolge barg keine Überraschung. Nur wenig war zu hören aus »Bad Magic«, dem jüngsten, insgesamt 22. Studioalbum der Band, das zwar keineswegs schlecht ist, aber dem Œuvre der Band auch nichts Nennenswertes hinzufügt. Lemmy und seine Mitstreiter Phil Campbell (Gitarre, seit 1983 dabei) und Mikkey Dee (Schlagzeug, seit 1992) verließen sich aufs Bewährte: Von »Bomber«, 1979 die erste Erfolgs-Single der Band, mit der Motörhead den Abend traditionsgemäß eröffneten, bis zum frenetischen »Overkill« aus demselben Jahr, mit dem das Konzert endete. Ebenfalls erwartungsgemäß gab es messerscharfe Backbeat-Drums, rasend beschleunigte und verzerrte Blues-Schemata und Lemmys typisch »matschiges« Bassspiel, das das Instrument wie eine besonders tief gestimmte Rhythmus-Gitarre behandelt.
Was es allerdings an diesem Abend leider so gut wie nicht zu hören gab, war Lemmys einst so markantes, mit Whiskey und Wut geschmiertes, grunzendes und polterndes Organ. Die Abmischung stellte wohl auch zur Schonung der angegriffenen Konstitution des Mastermind (seit 2013 macht Lemmy eine ­Diabetes-Erkrankung gesundheitlich schwer zu schaffen) fast ausschließlich auf den Instrumentalklang ab, der Gesang war eher zu erraten denn tatsächlich zu vernehmen, die charakteristischen Riffs ersetzten die Refrains nahezu vollständig. Mit einer Ausnahme, die den emotionalen Höhepunkt des Abends bildete: »Motörhead«, das namensgebende Stück, mit dem vor ziemlich genau 40 Jahren alles anfing, bot das Trio in einer intensiven Unplugged-Version, die die zerbrechlich gewordene Stimme Lemmys bloßlegte, gerade dadurch aber fast schon wie ein akustisches Vermächtnis des eigenartigen Großmeisters authentischer Rockmusik wirkte.
»Motorhead« bezeichnet im amerikanischen Slang einen Amphetamin-Abhängigen (die Umlautpünktchen setzte Lemmy erst später drauf, um das Ganze irrer und böser aussehen zu lassen) und beschreibt damit auch den Zustand, in dem sich Ian Kilmister 1974 befand, damals noch Bassist der drogenumwaberten britischen Space-Rock-Formation Hawkwind. Lemmy erzählt die Entstehung des Songs während einer Tournee durch die Vereinigten Staaten so: »Ich fühlte mitten in der Nacht den Druck, einen Song zu schreiben, ging auf den Hotelbalkon, heulte und schrie vier Stunden lang. Autos hielten an, die Fahrer musterten mich befremdet, und ich röhrte immer weiter, so laut ich nur konnte. Am Ende hatte ich den einzigen Rock ’n’ Roll-Song der Welt zustande gebracht, in dem das Wort ›Parallelogramm‹ vorkommt. Darauf bin ich sehr stolz.«
Dieser Song war denn auch so ziemlich das einzig Positive, was Lemmy von dieser chaotischen US-Tour mitbrachte. Hawkwind hatten ihn gefeuert und einfach im Hotelzimmer zurückgelassen, einen Prozess wegen Drogen­besitzes hatte er obendrein am Hals – man konnte schon sagen, dass Ian Kilmister, Pastorensohn aus Stoke-on-Trent, tief im Dreck saß, als er den Song 1977 mit zwei Kumpels, Phil »Philthy« Taylor und »Fast« Eddie Clark, noch einmal einspielte und ihn in einer besonders rohen und scheppernden Version auf dem kleinen Label Chiswick herausbrachte. Das war aber zugleich auch der Wendepunkt in Lemmys Leben, in einer Zeit, als der Punk über England schwappte und die Arbeitslosenzahlen Monat für Monat rasant stiegen. Motörhead kanalisierten die Wut des Punk, ohne dessen ­nihilistische Verachtung für alles, was vorher musikalisch da war, zu teilen, und distanzierten sich, sprachlich wie optisch, von dessen künstlerischen Anti-Kunst-Allüren. Motörhead kombinierten die britische Pub-Rock-Tradition mit metallischer Härte und proletarischem Loser-Gestus, eine Kombination, deren grundsympathische Ingredienzen auch an diesem Abend in der Max-Schmeling-Halle unverbraucht wirkten, gerade weil sie einer servierte, dessen Körper und dessen Stimme unübersehbar und unüberhörbar dem Rock ’n’ Roll so lange als Schlachtfeld gedient hatten.
Und da musste ich plötzlich an den todkranken Johnny Cash denken und an die eindrücklichen, so morbid dunklen wie absolut reduzierten Alben, die er in den letzten Jahren vor seinem Tod aufnahm. Genau als ein solcher Johnny Cash der britischen Rockmusik müsste Lemmy in Zukunft auftreten, mit angegriffener Stimme zur akustischen Gitarre Blues-Klassiker wie »Hoochie Coochie Man« ebenso wie seine eigenen Rock-Ungetüme à la »Ace of Spades« interpretieren. Genau das wünsche ich mir für nächste Weihnachten: Bittebitte, Lemmy.