Die letzte Ikone

Plötzlich herrscht Ruhe. Nach den Wochen des Streits, der Eskalation, der ausgerufenen »Merkel-Dämmerung« ist es sehr still. Die Junge Union ist so brav wie immer, Horst Seehofer und Thomas de Maizière scheinen doch noch irgendwie zu arbeiten und der Leitantrag zur Flüchtlingspolitik erhält aus Sachsen, dem notorischen Flüchtlingsbekämpfungsland, Lob. Die Koalition steht wieder halbwegs geeint da, Sigmar Gabriel hat seine Watschn kassiert und Bayern hilft kleinlaut, aber tüchtig mit, während die Flüchtlingsregistrierung in Berlin im menschenunwürdigen Chaos versinkt. Von einer Obergrenze bei der Flüchtlingsaufnahme wollen nur noch wenige sprechen, der Leitantrag zum Bundesparteitag der CDU, geschlossen vom Bundesvorstand eingebracht, fordert »reduzieren« und »verringern«. Inhaltlich hat Merkel also klein beigegeben. Wie so oft. Dennoch hat sie ihren Kurs symbolisch verteidigt. Ihren Kurs des grundsätzlich offenen Westens, der Integration, der Vielfalt – bei gleichzeitigen Abschiebungen. Denn das war bei allen Lobpreisungen immer ihre Haltung: Natürlich wollen viele kommen, natürlich können einige bleiben, natürlich sollen die dann alle Chancen haben, aber natürlich dürfen es nicht so viele sein.
Die Kanzlerin beglaubigt ihre irrationale Liebe zum Westen, ihr Bekenntnis zur Marktwirtschaft und zu den bürgerlichen Freiheitsrechten mit ihrer Biographie ebenso wie mit ihren Worten, denen ihre Politik letztlich nicht entspricht. Ihr Bekenntnis zu den westlichen Werten, an die sie wie kaum eine andere Politikerin glaubt, hat sie aufrechterhalten können, auch wenn sie ihre Politik den rechten und reaktionären Kräften in der Union angepasst hat. Von der Politik der »offenen Grenzen« ist nach einigen Monaten Streit und Gezeter nicht mehr viel übrig. Dennoch steht Merkel am Ende ihres wohl turbulentesten Jahres weiterhin unangefochten an der Spitze der Union, Deutschlands und symbolisch sogar des Westens. Übriggeblieben von den Auseinandersetzungen zur Flüchtlingspolitik ist nur der Kampf gegen Merkel, der vor allem auf antimodernen und antiwestlichen Ressentiments beruht, auf Rassismus und Wohlstandsdünkel. Merkel hat es somit auch in diesem Jahr geschafft, Kritik an sich abperlen zu lassen und trotz aller Einbußen als die Gewinnerin dazustehen. Das hat der frenetische Applaus auf dem Bundesparteitag der CDU eindrucksvoll gezeigt – Merkel ist und bleibt die Chefin. Sie hat ihr Ideal des freien, guten Westens als das richtige, erfolgversprechende Ideal verkaufen können, auch wenn ihre Politik schon längst dem entspricht, was sich die Rechten in Europa gewünscht haben. Sie ist die letzte echte Ikone einer Welt, die schon längst in kapitalistischen Widersprüchen und Bigotterie untergegangen schien. Und genau deswegen hat das Magazin Time sie zur Person of the Year ernannt, als »Chancellor of the Free World«.