Die Haut als Grenze

Die süße Haut

Über eine Grenze, die hoffentlich für immer ist.

In dem 2002 in die Kinos gekommenen französischen Spielfilm »Dans ma Peau« spielt Marina de Van die junge, beruflich erfolgreiche und offenbar auch in ihrem Privatleben zufriedene Esther, die sich eines Abends während einer Party bei einem Spaziergang durch den Garten an einem Stück Metall den Fuß verletzt. Obwohl die Wunde in Anbetracht der geringfügigen Verletzung ungewöhnlich groß ist, verspürt Esther keine Schmerzen, die Sorgen ihres Hausarztes schlägt sie in den Wind. Im Laufe der folgenden Wochen entwickelt sie ein geradezu obsessives Verhältnis zu der Wunde, reißt sie absichtlich immer wieder auf und verhindert durch Kratzen und zusätzliche Verletzungen die Heilung. Bald fügt sie sich mit Messern weitere Wunden zu, immer längere Abschnitte des Tages verbringt sie mit deren liebevoller Pflege. Ihrem Freund Vincent, der sich mit Geduld und Zartgefühl mehrfach erkundigt, ob etwas nicht in Ordnung sei, verrät sie nichts von der neu­entdeckten Leidenschaft. Ihrer Erwerbsarbeit nachzugehen, fällt ihr zunehmend schwer, weil sie immer öfter Gesprächstermine unterbricht, um sich zwecks Selbstverstümmelung auf die Toilette zurückzuziehen.
Eine beeindruckende Szene des Films führt vor, wie Esther während eines Geschäftsessens das Gefühl hat, dass ihre Arme sich verselbständigen, wie sie mit der rechten Hand den linken Arm, mit der linken den rechten zur Räson zu bringen versucht, während ihr immer klarer wird, dass sie ein peinlich auffälliges Verhalten an den Tag legt. Erst, als sie heimlich unter dem Tisch mit dem Essbesteck ihre Haut verletzt, beginnt sie sich zu entspannen. Im Folgenden zieht sie sich immer stärker ­zurück, ihre Arbeit, von der der Zuschauer nie viel mehr erfährt, als dass es sich um irgend­einen verantwortungsvollen Posten in der Kommunikationsbranche handelt, wird ihr ebenso bedeutungslos wie die doch im Grunde glückliche Liebesbeziehung zu Vincent. Sie beginnt, vertrocknete Stücke des eigenen Fleisches in ihrer Handtasche mit sich herumzutragen, an denen sie manchmal gedankenverloren knabbert. Am Ende dämmert sie in einer namenlosen Absteige vor sich hin; was weiter mit ihr geschehen wird, bleibt unklar.
Esther ist kein Emo-Girl, das sich die Haut ritzt, um sich und anderen zu beweisen, welche Verletzungen die Welt den Menschen noch vor Beginn der Volljährigkeit zufügt. Sie ist auch keine selbstbewusste Masochistin, die abseits des erfolgreichen Berufsalltags ihrem dunklen Vergnügen nachgeht. Die langen Selbstverletzungsszenen, für die Zuschauer weniger durch die eher zurückhaltenden Bilder als durch die grausigen Geräusche schwer erträglich, sprechen nicht von erotischer Entrückung, sondern vom Glück selbstvergessener Konzent­ration. Überhaupt macht der Film die sexuelle Implikation der Selbstverletzungen kaum zum Thema. Eher stellen die Wunden für Esther ein irreduzibles Relikt des Intimen dar, etwas, das allein sie betrifft, nur ihr gehört und nur von ihr genossen werden kann, entzogen sogar der Beziehung zu Vincent, vor dem sie ihre Selbstverstümmelungen mit zunehmender Mühe zu verbergen sucht. Während der nackte Leib, sogar das nackte Geschlecht längst banal geworden ist, figuriert die nackte Wunde als Statthalter der letzten verbliebenen Scham und daher auch des letzten Glücks, das Esther zukommt, wenn sie mit sich allein ist. Die Wunden zu pflegen, sie zu kratzen, sie offen zu halten und zu vergrößern, ist an die Stelle des Streichelns der Haut getreten, als einzige Geste der Selbstberührung, die noch etwas wie Erfahrung vermitteln zu können scheint.
Selbstberührung, als erotische Erregung des eigenen Körpers Voraussetzung für geteiltes sexuelles Glück, wird in »Dans ma Peau« als Selbstverwundung zelebriert, als würde die ­eigene Haut vom Subjekt nur noch in ihrer begrenzenden, nicht mehr in ihrer atmenden, durchlässigen Funktion wahrgenommen: als etwas, in das man schneiden muss, damit die Spannung endlich abgeführt wird und man zur Ruhe kommt – eine Ruhe, die schleichend, aber unausweichlich doch den gesellschaftlichen Tod nach sich zieht, weil sich so etwas nun wirklich niemand leisten darf, mag man gegenüber Perversionen aller Art sonst auch ziemlich tolerant sein. Obwohl der Film Esthers berufliche Souveränität und ihre Zufriedenheit mit ihrer Liebesbeziehung herausstellt, ist es kein Zufall, dass er die Veränderungen leib­licher Selbsterfahrung an einem weiblichen Subjekt vor Augen führt. Die weibliche Haut, mehr noch als der weibliche Körper, wie es meist unspezifisch heißt, figuriert als die Ikone der Sinnlichkeit, des glücklichen Austauschs zwischen Innen und Außen, Eigenem und Fremdem, während solche Sinnlichkeit an der männlichen Körperoberfläche als weichlich, mithin weibisch erscheint. Die weibliche Haut soll den Austausch der Lüste ermöglichen, sie ist wesentlich Membran und daher Gegenstand imaginärer erotischer Besetzungen. Die männliche Haut hingegen ist wesentlich Begrenzung, in Gestalt des body, von dem inzwischen fast alle reden, wenn sie den Leib meinen, und der nicht umsonst die Leiche bezeichnet, als Leib gewordener Körperpanzer. In jedem Fall aber als etwas, das den Abstand wahrt und dessen temporäre Überschreitung erstmal genehmigt werden muss, während die weibliche Haut sozusagen von sich aus einladen soll zur Berührung, zum Austausch, zur Transgression.
In gewisser Weise erzählt »Dans ma Peau« von den stummen Verkümmerungen, die es nach sich zieht, dass die Ikonographie der weiblichen und männlichen Körperoberfläche, abgedrängt ins Unbewusste und Unartikulierte, fortbesteht, während sich in der kollektiven gesellschaftlichen Phantasiebildung die weiblichen Selbstbilder an die männlichen angeglichen haben: Sich fit zu halten, ständig am eigenen body zu bauen wie an all den übrigen Baustellen, als deren Konglomerat das individuelle Leben erscheint, ist längst ebenso Frauen- wie Männersache. Betont wird weniger der Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Körperoberflächen als der universale Exorzismus des Weibischen, Weichlichen, membranhaft Fragilen – letztlich des Leibhaften selbst – aus den weiblichen wie männlichen Körpern. Das kommunikative, auf den intimen Tausch (Tausch der Küsse, Tausch der Berührungen, auch Tausch der Worte und Blicke) zielende, verführerische Moment der Haut als Körpermembran fällt zunehmend der Verdrängung anheim. Allerdings nicht einfach zugunsten des Körperpanzers, wie ihn Klaus Theweleit am Modell des soldatischen, sozusagen verpreußten Mannes aus der Zeit des Ersten Weltkriegs untersucht hat und dessen Fortbestand er bis heute behauptet, sondern eher zugunsten einer geschlechterübergreifenden Neutralisierung der Haut zum empfindungs- und erfahrungslosen Unterschied zwischen Ich und Welt, und damit eigentlich überhaupt erst zur bloßen Oberfläche.
Tatsächlich ist die Haut nämlich nie nur Oberfläche und Begrenzung des Körpers, sondern, als Bestandteil ein und desselben Leibs, immer auch dessen Organ: Sie lebt, sie atmet, sie spürt und erkennt wie die übrigen Sinnes­organe. In der Gänsehaut als einer durch zahllose feinste Härchen gebildeten Haut auf der Haut ist diese Fähigkeit besonders greifbar. In seismographischer Genauigkeit tastet sie Schrecken wie Lust, Angst wie Glück voraus und hält damit die Einheit des gleichwohl Unterschiedenen als somatischen Grund noch der vermitteltsten geistigen Erfahrungen wach. Die inzwischen massenhafte und ebenfalls geschlechterübergreifende Tendenz nicht nur zur Schamhaar-, sondern zur Ganzkörperrasur (bei Männern interessanterweise verbunden mit kollektiver Verbartung, also mit Selbstverpelzung des Gesichts als geistigstem aller Körperteile) betont nur scheinbar einfach die Haut als Körpergrenze. In Wahrheit tilgt sie mit Beseitigung der Körperhärchen die Bedingung der Möglichkeit des Hautsinns und die Erinnerung an die Funktion der Haut als leibhaftes Erkenntnisorgan. Darum ist die Obsession mit der Körperrasur auch kein Ausdruck einer kollek­tiven Verkindlichung durch Eliminierung des Körperhaars als Zeichen sexueller Reife und erwachsener Individuation. Eher als Reife und Erwachsenheit wird durch die Entfernung der Körperhaare von der Haut deren residuale Kreatürlichkeit exorziert: Mit den Zeichen der Erwachsenheit und damit der Lebendigkeit und Endlichkeit des Leibs tilgt man die naturale Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis, die Erinnerung ans leibhafte, impulshafte Moment alles Geistigen.
Welche immense Bedeutung der libidinös besetzten Körperoberfläche als materiale Bedingung für die Fähigkeit zur Vermittlung zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen Selbst und Anderen, bei der Konstitution des Ich zukommt, hat die Psychoanalyse beschrieben, obgleich Freud keine genuine Theorie dessen vorgelegt hat, was später Didier Anzieu einseitig aufs Somatische fixiert und damit schon wieder falsch das »Haut-Ich« genannt hat. Diesem »Haut-Ich« schreibt Anzieu drei Funktionen zu: die einer »Tasche« beziehungsweise eines Behälters; die einer Barriere; und schließlich die der Kommunikation und Wechselwirkung mit der Außenwelt. Die letzten beiden Funktionen fassen im Grunde nur die komplementäre Bedeutung jeder Art von Grenze zusammen: Unterschiede zu setzen und zugleich deren Überschreitung zu ermöglichen, Verbindungen herzustellen, indem das Verbundene voneinander abgegrenzt, als von­einander Unterschiedenes bestimmt wird; insofern blickt jede Grenze sozusagen in zwei Richtungen. Die erste Funktion ist interessanter, weil spezifischer: Sie zielt darauf, dass alle Erfahrungen, deren festhaltende Verwandlung die innere Biographie eines jeden Subjekts ausmacht, sich in den Menschen in irgendeiner Weise sedimentieren, dass sie eine leibhafte, materiale Trägerschicht finden müssen, an der sie sich niederschlagen. Diese Schicht – und daher mehr und anderes als eine »Tasche« – ist das »Haut-Ich«. Die Haut als Oberflächenorgan des Leibs ist demnach die räumlich wie auch leibgeschichtlich erste Erfahrungsschicht der Menschen, an und in der sich im Laufe der Individuation Glück, Schmerz, Entbehrung, Angst, Hoffnung, Begehren, Wünsche und Illu­sionen niederschlagen. Als solche ist sie materiale Möglichkeitsbedingung des Ich, das sich aus ihr buchstäblich herausbildet, um ihr im Zuge der Individuation als relativ Selbständiges und doch von ihr Abhängiges gegenüberzutreten.
Wo in der frühkindlichen Entwicklung die Ausbildung dieser Erfahrungsschicht gestört wird, bleibt die Ausdifferenzierung von Es, Ich und Über-Ich von dieser Störung immer gleichsam imprägniert. Vor diesem Hintergrund lassen sich Moden der Inszenierungen von Körperoberflächen – sei es der sich wandelnde Umgang mit Körperbehaarung oder der Trend zur Tätowierung, die nicht mehr nur im subkulturellen Milieu, sondern auch unter Akademikern als besonderer Fähigkeitsbeweis firmiert – als Symptome für Veränderungen des Verhältnisses deuten, das die vergesellschafteten Subjekte zur ersten Natur als Erfahrungsrest und Residuum von Erfahrungsfähigkeit unterhalten. Wenn Esther ihre Geschäftstreffen unterbricht, um sich ein neues Stück Fleisch aus ihrem Arm zu schneiden, wird sie nicht einfach für ein paar Minuten zum Tier, um danach wieder als rollenbewusste Darstellerin ihrer selbst auftreten zu können. Vielmehr indiziert es die vollständige Abtrennung der Erfahrungsschicht des Leibs von jedem Alltag, ihr Fortwesen in einer zur Privatobsession und letztlich zur Vernichtung der sozialen Person werdenden intimen Parallelwelt: Das »Haut-Ich« als materiales Konstituens des Ich ist so wenig wie dieses selbst einfach verschwunden. Vielmehr existiert es als dysfunktionales, irres Überbleibsel fort. Irgendwie weiß jeder von der Lebensnotwendigkeit der Erfahrungsschicht, die sich in ihm niederschlägt und ausdrückt, irgendwie ahnen alle, dass die »süße Haut«, nach der François Truffaut einen seiner schönsten Filme benannte (das douce in »La Peau Douce« meint ebenso »sanft« wie »süß«), die Erfahrungsbedingung für jeden triftigen Begriff von Glück ist. Aber genauso wissen alle, dass sich mit all dem im eigenen Leben nichts mehr anfangen lässt. Die einzige Grenze, die für immer sei, weil sie jede Lust und jedes Leben erst möglich macht, ist heute nicht mal mehr eine Angelegenheit von Kosmetik- und Badezusatzherstellern, sondern von gesundheitspolitischen Leichenpräparierern, die den Atem, der nicht nur im Sinne des biblischen Wortes, sondern ganz profan die Körper beseelt und zum Leib verwandelt, aus ihnen austreiben wollen. Dass das nie ganz gelingen kann, merken die Subjekte immer nur augenblickshaft, wenn mit dieser merkwürdigsten aller Grenzen etwas geschieht, das nicht vorher­gesehen war: hoffentlich selten eine Wunde, hoffentlich öfter mal etwas, das sie atmen lässt.