Die Grenzen der politisch korrekten Sprache am Beispiel des Wortes »Flüchtling«

Fliehen ohne Ende

Das Wort »Flüchtlinge« durch das Modewort »Geflüchtete« ersetzen zu wollen, ist ein sprachpolitischer Taschenspielertrick. Konsequenzen hat er dennoch.

»Je suis Charlie« und »Grexit« haben es nicht geschafft. Am 11. Dezember kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) den Begriff »Flüchtlinge« zum Wort des Jahres 2015. Bei der Ernennung gehe es nicht um die Häufigkeit der Verwendung. Die Wörter sollten »das zu Ende gehende Jahr besonders gut charakterisieren«, so der Sprachverein.
Auffallend ist, dass nicht mehr nur linke Sprachpanscher »Flüchtlinge« lieber als Unwort des Jahres gesehen hätten, sondern auch zahlreiche Feuilletonschreiber der bürgerlichen Zeitungen. Die verantwortliche Gesellschaft schien um diese Bedenken gewusst zu haben und konstatierte in Reklamemanier, das Wort sei »auch sprachlich interessant«. Es werde »gebildet aus dem Verb flüchten und dem Ableitungssuffix -ling (›Person, die durch eine Eigenschaft oder ein Merkmal charakterisiert ist‹)«. Doch »Flüchtling« klinge für »sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig«, schrieb die GfdS. »Analoge Bildungen wie Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling sind negativ konnotiert, andere wie Prüfling, Lehrling, Findling, Sträfling oder Schützling haben eine deutlich passive Komponente.« So hatte die GfdS die Kritik schon vorweggenommen. Was jenen, die nun wieder einmal mit Linguistik und Semantik gegen die tatsächliche Ohnmacht ins Feld ziehen, nun noch fehlte, war die Forderung nach einer Umbenennung von »Flüchtlingen« in »Geflüchtete«.

Dabei zeigte sich bereits vor nunmehr über 20 Jahren, dass der Kampf für die Nichtverwendung des Wortes »Asylant« beispielsweise, das über die Endung -ant mit solch schrecklichen Begriffen wie Simulant, Dilettant oder Querulant assoziiert werden kann, nicht das Geringste am damals verabschiedeten »Asylkompromiss« änderte. Der nativistische Psychologe Steven Pinkler hat für diese Mechanismen der Sprachkrittelei die Formulierung »Euphemismus-Tretmühle« geprägt. Diese bezeichnet den Vorgang, dass alle negativen Konnotationen, die einem bestimmten Begriff eigen sind, jeden künstlichen Sprachwandel überstehen, solange die prägenden materiellen Verhältnisse gleichbleiben.
Der sprachpolitische Taschenspielertrick besteht nun darin, nicht nur einer spezifischen Ableitung, sondern dem dazu herangezogenen Suffix selbst zu unterstellen, es sei per se pejorativ, ironisch, diminutiv, also in irgendeinem Sinne negativ, wie es die Ausführungen der GfdS in abgeschwächter Form andeuten. Maßgeblich verantwortlich für diese Argumentation ist die Anglistikprofessorin Susan Arndt. Sie plädiert aus den gleichen Gründen seit Jahren dafür, auf keinen Fall mehr vom »Häuptling« zu sprechen.
Viele Kommentare zum Thema beziehen sich zudem auf Hannah Arendt und ihren Text »Wir Flüchtlinge«, in dem sie schrieb: »Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ›Flüchtlinge‹ nennt. Wir selbst bezeichnen uns als ›Neuankömmlinge‹ oder als ›Einwanderer‹.« Zum einen zeigt sich hier aber, dass Arendt ganz offensichtlich keine Suffixfetischistin gewesen sein kann. Zum anderen versucht niemand, diese Ausführungen im Lichte ihrer sonstigen Theorieproduktion zu reflektieren. »Ein Einwanderer hat eine Entscheidung gefällt, ein Flüchtling dagegen hatte keine Wahl. Er ist nicht handelndes Subjekt, sondern passives Opfer«, hieß es im Deutschlandradio Kultur dazu. Arendts Abscheu vor der Pas­sivität oder auch nur vor deren Anerkennung deutet in erster Linie jedoch darauf hin, dass sie Heideggers Adelung der »Not, der die Notwendigkeit der Entscheidung entspringt«, weiterhin tief verhaftet blieb. Die Motivation zur Flucht als eine aktive Entscheidung und nicht als äußerlichen Zwang zu deuten, ist eine Verharmlosung von Fluchtursachen.

Aus den meisten Argumenten spricht zudem Begriffsstutzigkeit im wörtlichen Sinne. Der sächsische Flüchtlingsrat schreibt: »Hinter der Versachlichung, die durch das Suffix ›-ling‹ entsteht, verschwinden persönliche Hintergründe von Personen, Bildungs- und Berufsgeschichten, persönliche Interessen und politische Meinungen. Daher ist es angebrachter, von ›geflüchteten oder geflohenen Menschen‹ zu sprechen.« Als wäre der Begriff »Menschen« nicht das Abstraktum schlechthin.
Die Heinrich-Böll-Stiftung fragt: »Überdeckt die Bezeichnung nicht gerade Einzelschicksale und homogenisiert Menschen, die aus völlig unterschiedlichen Beweggründen migrieren?« Und schlägt »Ankommende« vor. Aus der richtigen Erkenntnis, dass es nun einmal zum Wesen des Begriffs gehört, durch ihn Bezeichnete in Gemeinsamkeiten zu vereinen und somit immer latent zu »homogenisieren«, folgt, dass ein anderer Begriff gefunden werden müsse. Nur funktioniert dieser notwendig auf genau dieselbe Weise.
In der Süddeutschen Zeitung heißt es: »Es ist aber niemand nur Flüchtling. Die Menschen, die vor Krieg und Verfolgung nach Europa flüchten, sind mehr: Mütter oder Väter, Ingenieure oder Köche, sie haben Bücher gelesen, Filme gesehen. Sie haben im vollen Sinne gelebt und werden es weiterhin tun.« Dass eine Flucht über Tausende Kilometer nicht gerade im angenehmsten Sinne eine volle Pulle Leben ist, während der man wahrscheinlich nicht viel Zeit für Bücher und Filme hat, wird hier zugunsten des sprachlichen Empowerment verschwiegen. Auch dass es sich nicht um freiwillige Bootsfahrten oder Campingtouren handelt, die man unternimmt, um für eine Weile zu vergessen, dass man Koch, Ingenieur und Elternteil ist, bleibt unerwähnt.
Das Verhältnis des Geflüchteten zum Flüchtling ist in abstrakter Weise jenes des Ehepartners zum Liebling. Hier ist es der institutionalisierte Status des Verheiratetseins im Gegensatz zur drohenden Vergänglichkeit der Liebe oder besser noch des Verliebtseins. Bildungen mit dem Suffix -ling bezeichnen häufig eine zwangsläufig flüchtige Momentaufnahme im Leben eines Menschen, sei es nun ein Säugling, Lehrling, Prüfling, Häftling oder Täufling. Der alternative Anglizismus Refugee, der wie fiancée aus dem Französischen übernommen wurde, folgt ironischer­weise genau demselben Mechanismus.

Von »Geflüchteten« zu sprechen, bringt hingegen etwas mit sich, das in einem bestimmten Teil der Welt längst Usus geworden ist. Das berüchtigte Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) versorgt mittlerweile um die 4,6 Millionen »Flüchtlinge«, obwohl nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 nur etwa 750 000 Paläs­tinenser aus dem Staatsgebiet flohen. Nicht nur kann der palästinensische Flüchtlingsstatus bis in die heutige Generation vererbt werden, es ist sogar möglich, ihn qua Adoption an Personen weiterzugeben, die zuvor kein Anrecht auf ihn hatten. Ferner gelten die meisten Bewohner der palästinensischen Autonomiegebiete weiterhin als Flüchtlinge. Sie alle sind vor allem deshalb de facto Staatenlose, weil ihnen in allen Staaten außer in Jordanien und Israel die Staatsbürgerschaft verweigert wird.
Das Flüchtlingsdasein hingegen endet in dem Moment, in dem man wieder Staatsbürger eines Landes wird – sei es nun das Herkunftsland, ­eines, das an dessen Stelle entstanden ist, oder schlichtweg das Aufnahmeland. Geflüchteter bleibt man dagegen ewig. Der Begriff des Flüchtlings beinhaltet die Hoffnung, dass das Grauen der Flucht ein Ende findet. Jener des Geflüchteten gibt das Ende nur vor, während das Grauen andauert.