»Ausprobiert«. Sport als Therapie

Workout um neun

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als ­Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 17: Sport als (und in der) Therapie.

Als ich die Schule verließ, war ich topfit. Anderthalb Stunden Geräteturnen und Völkerball in der Woche hatten mich gestählt für die Herausforderungen, die nun einer 20jährigen Studentin harren sollten. Auf gar keinen Fall abschlaffen, nahm ich mir vor. Regelmäßige Workouts, die vor allem aus Speedziehen und Technopartys bestanden, forderten mich total. Mein jugendlicher Stoffwechsel erlaubte es mir, um drei Uhr nachts betrunken kalte Pizza zu verspeisen und trotzdem noch in meine Hosen zu passen.
Doch das aufregende Leben einer Spitzensportlerin forderte seinen Preis. Inzwischen nagt der Zahn der Zeit an meinem nicht mehr ganz jugendlichen Leib. Kalorien werden gezählt, damit die teuren Carhartt-Jeans weiter sitzen, im Freundeskreis spricht man erstmals über Diäten, und mir geht es auch emotional ­zusehends schlechter. Es fällt mir schwer, das Haus zu verlassen, ich werde apathisch, depressiv, von Panikattacken heimgesucht. Stellenweise gelingt es mir über Stunden hinweg nicht aufzustehen, aus Angst vor der Welt außerhalb meines Bettes. Ich beginne, unter der Woche regelmäßig zu trinken oder zu kiffen, betrachte mich selbst als wert- und meine Zukunft als hoffnungslos. Meine Produktivität geht gegen null. Ich weiß: Ich muss was für mich tun.
Meine Freundinnen und Freunde, die ebenfalls älter und verzweifelter werden, pilgern inzwischen grüppchenweise sowohl ins Fitnessstudio als auch zur Psychotherapeutin, tauschen Low-Carb-Rezepte aus und investieren ganze Monatsgehälter in Eiweißpulver und Spa-Besuche.
Ich hingegen bin vor kurzem einem weit ­exklusiveren Fitnessclub beigetreten.
Der neidgrüne Pöbel mag dessen Aufnahmebedingungen vielleicht als »elitär« und »ausschließend« beschreiben, aber die Club-Leitung legt besonders großen Wert auf ihre handverlesenen Mitglieder.
Schon Monate im Voraus gilt es, sich die Empfehlung von den entsprechenden Stellen einzuholen, darauf folgt ein Interview mit dem Vorsitzenden des Resorts, um sich die Aufnahmetauglichkeit attestieren zu lassen. Dann heißt es: bangen und warten. Auf der Warteliste der Bayreuther Festspiele kann es kaum spannender zugehen.
Als meinem Gesuch nach mehreren Monaten Wartezeit endlich entsprochen wird, brauche ich nicht viel Bedenkzeit: Mit Sack und Pack stehe ich vor den Toren dieses hochgelobten Wellness-Tempels.
Die nächsten zwei Monate meines Lebens sollen hier Körper und Geist wieder auf Vordermann gebracht werden.
Schon das in der Gebäudemitte gelegene Panoptikum macht deutlich: Hier geht es nur um uns! Meine höchsteigener Personal Trainer händigt mir nach einer Überprüfung von Blutwerten, Gewicht und eventuellen Drogenspuren im Urin eine Anzahl von Fragebögen und einen Trainingsplan aus, die ich umgehend näher studiere.
Bei den Fragebögen wurde auch wirklich an alles gedacht: »Werden Sie manchmal von Ihnen unbekannten Menschen angesprochen, die behaupten, Sie zu kennen?« Klar, häufiger auf Partys. Besonders unangenehm, wenn man angeblich mal mit ihnen geschlafen hat.
Auch wenn mein neues Zuhause Kost und Logis bietet, so achtet es enttäuschenderweise nicht auf meine persönlichen Diätwünsche, das gibt Punktabzug.
Dies, so stellt sich heraus, dient lediglich als Ansporn für die Gäste, sich selbst zu versorgen – schließlich ist dies ein rehab center für alle Sinne, und regelmäßiges Kochen dient, wie ich lerne, einer verbesserten Körperwahrnehmung!
Selbstverständlich ist auch die klinische Sauberkeit in den Zimmern der Spa-Gäste oberste Priorität des Unternehmens, und konsequenterweise wird auch diese mit einem Workout verknüpft. Um halb neun Uhr morgens stürmt eine Dame mit dem Elan eines Marktschreiers auf Koks ins Zimmer und poliert die Steckdosen über dem Bett. Man selbst hat gerade mal drei Minuten, den Raum zu verlassen.
Eine schweißtreibende Übung, aber auf jeden Fall eine ausgezeichnete Schocktherapie, um gerade meinen morgendlich auftretenden Panikattacken als auch dem Bauchspeck voller Elan gegenübertreten zu können!
Sehr engagiert ist auch mein Personal Trainer, und darüber hinaus bestens geschult – ausgebildete Medizinerin ist die Dame.
Zweimal die Woche lädt sie mich in ihr Büro, und wir unterhalten uns über all die Dinge, die mir körperliches und geistiges Unwohlsein verursachen.
Bauarbeiter, die mir nachpfeifen, zum Beispiel. »Vielleicht geht es Ihnen besser, wenn Sie das als Kompliment betrachten«, anstatt als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Dauermisere.
Sicher gut für mein Körpergefühl.
Aber auch die anderen Module meiner Rundumerneuerung haben es in sich: Ich gehe in dem weiträumigen Innenhof spazieren und konzentriere mich auf die Bäume, fühle das Gras zwischen den Zehen oder sammele zufällig ausgewählte Objekte.
Danach kann ich mein »Inneres Kind« in Ton kneten und ihm einen Brief schreiben oder einen ausgewählten Bereich im Meditationsraum mit Muscheln, Schlüsseln und Stofftieren füllen.
Ich will nicht lügen: Es ist anstrengend. ­Permanent werde ich angehalten, über mich selbst zu reflektieren. Warum habe ich mich so gehen lassen? Warum bin ich schwabbelig und lethargisch geworden?
Wenn alles schiefläuft, verabreicht man mir hochpotente Zaubermittelchen, die mich wieder neue Kraft und Energie schöpfen oder zumindest tief einschlafen lassen.
Langsam wird mir klar, wieso die Anwärter dieses Etablissements härteren Kriterien standhalten müssen als die des Londoner Hurlingham Club.
Es ist auch ein eher verschlossenes Völkchen, mit dem ich mir die Mitgliedschaft teile.
Natürlich lernt man die one percent der Fitnessclubelite nicht von heute auf morgen kennen, da eine gewisse gesellschaftliche Position es nun einmal verlangt, sich in Geheimnisse und Mysterien zu hüllen. Ich gehe schließlich auch nicht damit hausieren, die Tochter eines weltbekannten Verlegers zu sein, der Fidel Castro einmal fast die Hand geschüttelt hätte.
Da ist zum Beispiel die würdevoll schweigende Dame mit der Adlertätowierung, aus dessen Schwingen das noble Antlitz eines Sioux-Häuptlings aufsteigt. Offensichtlich die Erbin eines Casinoimperiums.
Oder der renommierte Ethnologe, der sich für ein paar Monate von seinen Studienreisen in den Amazonas erholen musste. Er erfreut uns des Öfteren mit seinen Darbietungen »indianischer Fruchtbarkeitstänze«, die er in der Küche zum Besten gibt.
Trotz, oder gerade weil derart viele exzentrische Gestalten unter einem Dach bis an ihr Äußerstes gehen, kommt man um ein bisschen Drama nicht herum.
Es wäre doch auch langweilig, würde man die bei einem interessanten Charakter notwendigen Spleens einfach ablegen, nur weil man sich einem mehrwöchigen Kurprogramm unterzieht! Wie, als die Glücksspielmogulin mit einem Laib Brot beworfen wurde. Was haben wir alle herzlich gelacht!
Schwächere Geister als wir würden an den alltäglichen Anforderungen zur Selbstbesinnung oder wegen der permanenten geistigen und körperlichen Disziplinierung schlicht zerbrechen.
Ich weiß, dass es alles zu meinem Besten ist. Etwa, wenn mir die ausgebildete Suchttherapeutin die cravings nach Oralverkehr auf Ecstasy austreiben möchte, die ich nun in mühsamer Kleinarbeit zu kontrollieren lerne. Andere lässt man einfach verkatert im Bett liegen und weinen, auf dass sie irgendwann in schwere Persönlichkeitsstörungen abdriften. Ich hingegen gehöre zu den wenigen Glücklichen, die diesem Schicksal entgehen dürfen!
Doch dass auch das Leben der Auserwählten hart und voller Entbehrungen ist, musste nicht nur Harry Potter feststellen.
Je mehr ich im Fitnessclub die Tristesse meines bisherigen Lebens gegen die Schönheit schmerzender Muskeln und schweigsamer Achtsamkeitsübungen austausche, um so mehr zweifle ich an der Zukunft außerhalb dieser heiligen Hallen.
Wie werde ich aufstehen können ohne die liebevoll harte Hand der Reinigungsfrau an meinem Bettgestell? Werden mir die Gespräche mit meinen Freundinnen nicht leer und belanglos vorkommen nach dem lebhaften Austausch über unsere charmanten Neurosen und impulsiven Fressattacken oder häufig wechselnden Affären mit den anderen Wohlhabenden, mit denen ich mir die Räume und Workout-Stunden teile?
Wie soll ich je wieder körperliche Ekstase verspüren ohne die anfeuernden Zurufe meiner Coaches?
»Das schaffen Sie, Frau Kracher, nicht aufgeben!« und »Wollen Sie nicht auch, dass es Ihnen wieder besser geht?«
Panisch verfasse ich flehende Bittschreiben an meine Krankenkasse: Ich kann nicht wieder in meine so geliebte, aber inzwischen einfach ungenügende Punker-WG zurück, ich brauche mehr Zeit!
Denn was früher die Drogen und die Selbstverletzung verhießen, bietet jetzt nur noch der permanente Endorphin-Rausch von körperlicher und geistiger Beherrschung. Endlich fühle ich mich wieder lebendig, präsent und bereit, den Verhältnissen und ihren Apologeten in den Hintern zu treten.
Ich habe Körpertherapien ausprobiert, und weiß nun, dass ich nie wieder aufhören kann.
Die Krankenkasse hat mein Gesuch leider abgelehnt, aber zum Glück hat mir ein seriös wirkender Geschäftsmann einen Kredit gewährt, so dass ich zumindest die kommenden Monate privat finanzieren kann.
Das muss es mir wert sein – denn wer einmal in der Klinik für Psychiatrie, Psychologie und Psychosomatik war, will immer wieder dorthin zurück.