Der Militäreinsatz der türkischen Armee in den kurdischen Gebieten geht weiter

Feldzug gegen die Opposition

Die türkische Armee geht weiterhin gegen die Bevölkerung in den kurdischen Gebieten des Landes vor. Doch der türkischen Regierung geht es vermutlich vor allem um die Schwächung der prokurdischen Opposi­tionspartei HDP.

Seit dem Sommer herrschen im hauptsächlich von Kurdinnen und Kurden bewohnten Südosten der Türkei Angst und Schrecken. Immer wieder werden Ausgangssperren von unbestimmter Dauer verhängt. Den Rekord hält Cizre mit über 22 Tagen im Dezember und Januar. Scharfschützen sorgen dafür, dass es niemand wagt, das Haus zu verlassen. Auch Personen, die mit weißen Fahnen herauskamen, um zum Arzt zu gehen, wurden schon erschossen.
So sieht der Alltag mittlerweile in vielen kurdischen Städten aus. Mitte Dezember hat das türkische Militär das Vorgehen nochmals verschärft. Es sollen 10 000 Soldaten im Einsatz sein, eine Angabe, die eher unter- als übertrieben erscheint. Zuvor wurde Verstärkung mit schweren Panzern aus dem europäischen Teil der Türkei in den Südosten verlegt. Vor dem Einsatz wurden in Cizre die Schulen geschlossen. Die Lehrer erhielten, so wie alle übrigen Beamten in Cizre, die nicht bei den Sicherheitskräften angestellt sind, Urlaub auf unbestimmte Zeit und sollten die Stadt verlassen.
Unter den 120 000 übrigen Einwohnern Cizres verbreitete der Abzug der Lehrer und Beamten Furcht und das Gefühl, als Kurdinnen und Kurden bestenfalls Menschen zweiter Klasse zu sein. Die Furcht war nur zu berechtigt. Die Stadt am Tigris, die schon im September vom türkischen Militär heftig beschossen worden war, geriet erneut tagelang unter Beschuss. Die wegen regierungskritischer Äußerungen in einem Interview vom Innenministerium abgesetzte Bürgermeisterin von Cizre, Leyla İmret, verglich die Situation in der Stadt mit dem Vietnamkrieg und dem Zweiten Weltkrieg.
Bereits nach der ersten Eskalation im September waren ganze Straßenzüge in Cizre und anderen Städten zerschossen. Man konnte sich kaum vorstellen, dass das nur der Anfang war. Offizielles Ziel der Aktion ist, Barrikaden und Gräben zu beseitigen, die von der Jugendorganisation YDG-H errichtet wurden. Die Abkürzung steht für »Bewegung der heimatliebenden, revolutionären Jugend«, die YDG-H ist der radikale Flügel einer vor gut zwei Jahren gegründeten kurdischen Jugendorganisation, die der Partei der Arbeiter Kurdistans (PKK) nahesteht.

Indessen schießen nicht nur Panzer und Scharfschützen in Wohnvierteln. Terrorisiert werden die Bewohnerinnen und Bewohner auch durch das Auftreten einer neuen Kommandotruppe, die es offiziell gar nicht gibt. Sie nennt sich Esedullah, was im Arabischen in etwa »Löwen Allahs« heißt. Eine gleichnamige Truppe hatte in Kobanê an der Seite des »Islamischen Staats« (IS) gegen die Kurden gekämpft. Im November wurde während Militäraktionen in kurdischen Städten »Esedullah Team« auf Häuserwände gesprüht, daneben standen Parolen wie »Ihr werdet die Macht des Türken erfahren« oder »Unser Blut für die Aqsa, der Sieg gehört dem Islam«. Damit ist die Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem gemeint.
Es gibt Gerüchte, wonach Esedullah Kämpfer vom IS übernommen habe. Die HDP-Abgeordnete Çağlar Demirel aus Diyarbakır sagt, ihr sei mehrfach von bärtigen Männern berichtet worden, die Arabisch gesprochen und an Militäraktionen in kurdischen Städten teilgenommen hätten. Die Parolen an den Wänden sind allerdings auf Türkisch geschrieben. Dies muss jedoch kein Widerspruch sein, da sich auch Kurden aus der Türkei dem IS angeschlossen haben. Unter dem Feuer der Panzer und dem Terror der Esedullah leidet vor allem die Zivilbevölkerung, die zwischen Bomben und Granaten in ihren Häusern eingeschlossen ist.
In europäischen Medien werden die Ereignisse wenig behandelt. Zugleich gibt etwa die FAZ eine plausibel klingende Erklärung, die jedoch hinterfragt werden kann. Der Kampf der YDG-H gegen das Militär sei der Aufstand der marginalisierten, hoffnungslosen kurdischen Jugend: Jugendliche aus Familien, die aus Dörfern kommen, die in den neunziger Jahren vom Militär systematisch zerstört wurden und die nun unter prekären Verhältnissen in den Städten leben; Kinder, deren Väter und manchmal Mütter in den neunziger Jahren ermordet wurden, weil sie der PKK nahestanden. Enttäuscht über den gescheiterten Friedensprozess greife diese Jugend nun zu den Waffen.
An diesem eingängigen Bild ist sicher etwas dran, doch ist dieser Militäreinsatz keine Reaktion auf einen ernstzunehmenden Aufstand. Zwar haben einige der Jugendlichen leichte Waffen und manchmal gelingt es ihnen, unter einer Straße einen Tunnel zu graben und dann ein Militärfahrzeug mit einer Bombe zu zerstören, doch meistens setzen sie ihre Waffen nur defensiv ein. Der Militäreinsatz richtet sich auch nicht gezielt gegen Widerstandsnester, sondern die Armee beschießt jedes Haus.
Es sieht auch gar nicht wie ein spontaner Aufstand aus. Die YDG-H geht an vielen Orten sehr koordiniert vor. In PKK-nahen Medien wird der Aufstand als eine Art Selbstverteidigung gepriesen. Der Aufstand geht mit der Erklärung einer »Selbstverwaltung« einher. Die Selbstverwaltung ist das, was Abdullah Öcalan, der Anführer der PKK, als Lösung des »Kurdenproblems« nach einer Einigung mit der Türkei vorgesehen hat. Nun soll sie der Ausweg aus der »Diktatur« von Präsident Recep Tayyip Erdoğan sein. Eine Versammlung, die sich Kongress der demokratischen Gesellschaft nennt, hat die Selbstverwaltung Ende Dezember in Diyarbakır noch einmal ausdrücklich beschlossen.

Die Selbstverwaltung ist nicht ein Konzept des zivilen Ungehorsams, sondern eine Art Abspaltung mit geringer praktischer Bedeutung, außer dass sie kurdische Politikerinnen und Politiker dazu zwingt, sich entweder von der eigenen Bewegung zu distanzieren oder der Gefahr eines Hochverratsprozesses auszusetzen. Die kurdische Bewegung isoliert sich dadurch auch politisch von anderen Oppositionellen in der Türkei. Zudem wird neben der Terrorismusbekämpfung eine zweite Legitimation für den Militäreinsatz geschaffen.
Ob zu Recht oder zu Unrecht erinnert die YDG-H an die »Freiheitsfalken Kurdistans« (TAK), die erstmals 2004 in Erscheinung traten. Auch die TAK behaupteten, eine Organisation zorniger kurdischer Jugendlicher zu sein. Sie bezogen sich auf Öcalan, waren aber angeblich der Kontrolle der PKK entglitten. Eine Zeitlang verübten die TAK Terroranschläge auch auf Touristen. Die YDG-H hat zwar anders als die TAK zumindest eine Vorgeschichte als legale Organisation und sie verübt keine Anschläge auf unbeteiligte Zivilisten, trotzdem könnte auch sie vorgeschoben sein, um eine Eskalation zu betreiben, die vor allem der kurdischen Bevölkerung und der prokurdischen HDP schadet. Bei den Wahlen am 1. November büßte die HDP gegenüber der Wahl vom 7. Juni fast eine Million Stimmen ein. Parteiintern wurde das von vielen mit der Ausbreitung der Gewalt erklärt.
Die HDP forcierte den Aufstand lange Zeit keineswegs. Der HDP-Abgeordnete Mithat Sancar sagt, die Partei sei gerne bereit, zwischen den Jugendlichen und den Sicherheitskräften zu vermitteln. Als eine Partei, die in Cizre 93 Prozent der Stimmen bekommen hat und ähnlich gute Ergebnisse in den anderen betroffenen Städten vorweisen kann, hätte die HDP dazu sicher den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung. Doch da die türkische Regierung nicht das mindeste Interesse an einer Vermittlung hat und sich die Situation der Bevölkerung immer weiter verschlechtert, was natürlich auch die Hardliner im kurdischen Lager beflügelt, stand die HDP schließlich mit leeren Händen zwischen zwei Lagern. Um nicht jeden Halt zu verlieren, sah die Partei schließlich keinen anderen Ausweg, als sich der Forderung nach Selbstverwaltung anzuschließen – in der Hoffnung, auf diese Weise wieder als politischer Mittler auftreten zu können. Erdoğan reagierte sofort mit der Forderung nach Strafverfahren gegen die beiden Vorsitzenden der Partei und nach Aufhebung ihrer Immunität.

Mit dem Krieg gegen die YDG-H werden nebenher noch ganz andere Maßnahmen gerechtfertigt. So wurden im Haus eines angeblichen Anhängers der YDG-H Bücher von Hasan Cemal und Tuğçe Tatari gefunden. Daraufhin befahl ein Gericht in Gaziantep die Beschlagnahmung dieser Bücher in der ganzen Türkei. Das Buch von Cemal beschäftigt sich kritisch mit der Kurdenpolitik der Regierung, der Autor ist weder Kurde noch steht er der PKK nahe. Die Journalistin Tatari setzte sich in ihrem Buch mit dem Friedensprozess auseinander.
Bei all dem kann man nicht oft genug wiederholen, dass Erdoğan die Gespräche mit Öcalan zwar abgebrochen, aber immer gesagt hat, dieser »Lösungsprozess« werde weitergehen und für die Unterbrechung sei nur die HDP verantwortlich. Ein gefangener PKK-Vorsitzender, den er zur Not völlig isolieren kann, ist nicht das Problem Erdoğans. In kritischen Momenten, etwa während der Gezi-Proteste, der Korruptionsskandale oder der Kobanê-Proteste, hat Öcalan Erdoğan mit Erklärungen geholfen.
Ein Problem für den türkischen Präsidenten sind hingegen die HDP und ihr Co-Vorsitzender Selahattin Demirtaş, weil sie sich Erdoğans gewünschter Sultanspräsidentschaft widersetzen. Es geht also nicht um Terrorismusbekämpfung oder einen »Aufstand der enttäuschten Jugend«, sondern um die Marginalisierung der HDP durch Terror. Auch die PKK kann mit einer Marginalisierung der HDP durchaus leben, behält sie doch auf diese Weise so etwas wie den Alleinvertretungsanspruch in der kurdischen Frage.
Keine Frage, dass die HDP, die im Juni vergangenen Jahres der regierenden AKP die schwerste Niederlage ihrer Geschichte bereitet hatte und noch immer die drittgrößte Fraktion im türkischen Parlament stellt, Erdoğan ein Dorn im Auge ist, aber man kann sich schon wundern, wie wenig ernst manche im kurdischen Lager ihre einzige demokratisch legitimierte Vertretung nehmen. Man sah das bei den Verhandlungen mit Öcalan, zu denen die HDP nur ein paar Briefträger schicken durfte, und man sieht es jetzt, wenn einige Menschen einen Aufstand beschließen, der Erdoğan offensichtlich nur in die Hände spielt.