Das Freihandelsabkommen der EU mit Vietnam tritt bald in Kraft

Freiheit, die sie meinen

Im vergangenen Jahr unterzeichneten die Europäische Union und Vietnam ein Freihandelsabkommen – fast unbeachtet von der Öffentlichkeit.

Bereits vor der Ratifizierung stimulieren Freihandelsabkommen die Wirtschaft. Das meint zumindest der vietnamesische Planungsminister Bui Quang Vinh, der Ende Dezember das EU-Vietnam-Freihandelsabkommen (EUVFTA) zu den Faktoren zählte, die seinem Land 2015 zu dem unerwartet hohen Wirtschaftswachstum von 6,7 Prozent und ausländischen Investitionen in Höhe von 14,5 Milliarden Dollar verhalfen.
Vietnam ist für westliche Staaten zu einem interessanten Wirtschaftspartner geworden. So traf Präsident Truong Tan Sang Ende November bei seinem Besuch in Deutschland unter anderem Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel. Das Handelsvolumen Deutschlands mit Vietnam betrug 2014 7,2 Milliarden Euro, rund 300 deutsche Firmen sind in Vietnam vertreten – Tendenz steigend.
Ein Thema der Gespräche dürfte auch das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Vietnam gewesen sein, dessen Verhandlung nach knapp drei Jahren im August 2015 abgeschlossen wurde. Anfang Dezember – der vietnamesische Präsident hatte Deutschland gerade wieder verlassen, dafür lächelten Jean-Claude Juncker und der vietnamesische Ministerpräsident Nguyen Tan Dung in die Kameras – unterzeichneten die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström und Vietnams Minister für Industrie und Handel, Vu Huy Hoang, in Brüssel das EUVFTA. Die EU ist der zweitgrößte Handelspartner Vietnams und ebenso der zweitgrößte Exportmarkt. Vietnam exportiert vor allem Mobiltelefone und andere elektronische Geräte sowie Bekleidung und Schuhe. Von ähnlicher Bedeutung sind landwirtschaftliche Produkte, vor allem Reis, Kaffee und Meeresfrüchte. Importiert werden vor allem High-Tech-Produkte wie elektrische Maschinen und Anlagen, Flug- und Fahrzeuge sowie medizinische Produkte, vor allem Medikamente. Mit dem Abkommen soll den Vertragspartnern der Zugang zu den Märkten erleichtert und Investitionen sollen gesteigert werden. Dafür werden 99 Prozent aller Zölle beseitigt.

All dies ähnelt den Vorhaben in den laufenden Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen der EU und den USA. Das Besondere beim EUVFTA ist der Verzicht auf private Schiedsgerichte zur Lösung von Streitigkeiten zwischen Staaten und Investoren. Kritiker werfen diesen Schiedsgerichten vor allem mangelnde Transparenz der Urteile sowie Abhängigkeit von den Unternehmen und die Einschränkung der gesetzgebenden Gewalt des Staats vor. Im EUVFTA wurden sie durch ein eigenständiges Gremium aus unabhängigen Schlichtern ersetzt. So soll Neutralität gewahrt werden. Die Staaten sollen auch weiterhin das Recht haben, Gesetze zu erlassen, die auf Kosten privater Investoren gehen – ein Schutz, der vor allem dem schwächeren Partner Vietnam zu Gute kommt.
Die Veränderungen durch das EUVFTA entsprechen den wirtschaftspolitischen Zielen der vietnamesischen Regierung. Sie hat 1986 die unter dem Namen »Doi Moi« bekannt gewordene Reformpolitik eingeleitet, deren Fokus auf Marktöffnung und Wachstum liegt, wobei dem Staat eine lenkende Rolle zukommt. Die Sozialistische Republik Vietnam, die seit 1976 von der Kommunistischen Partei regiert wird, setzt vor allem auf den Außenhandel. Das Ziel der Regierung, bis 2020 zum Industrieland aufzusteigen, kann nur durch zusätzliche Investitionen erreicht werden, die durch Freihandelsabkommen gefördert werden sollen. Vietnam hat solche Abkommen unter anderem mit den USA, Indien und China abgeschlossen und ist 1995 der Association of South­east Asian Nations (ASEAN) und deren Freihandelsraum beigetreten.
Auf den ersten Blick scheint das EUVFTA verglichen mit anderen Abkommen fairer für den schwächeren Partner und die Bevölkerung. So finden sich im Vertrag Passagen, die soziale und ökologische Standards betreffen, wie die Achtung der Arbeitsnormen der Internationalen ­Arbeitsorganisation. Der Vorsitzende des EU-Handelsausschusses im Europäischen Parlament, Bernd Lange (SPD), schwärmte, dass der Vertrag ein »Meilenstein der Handelsbeziehungen zu Südostasien« sei und »die Bildung unabhängiger Gewerkschaften« unterstütze. Doch weiterhin müssen alle vietnamesischen Gewerkschaften sich dem offiziellen Dachverband anschließen, der unter Aufsicht der KP steht.

Auch eine kontroverse Debatte ist in Vietnam nicht möglich. Von der deutschen und europäischen Öffentlichkeit wurde das EUVFTA kaum zur Kenntnis genommen, während in Deutschland 250 000 Menschen gegen TTIP auf die Straße gingen. Der Freihandel mit Südostasien stößt auf wenig Widerstand. Ein Grund hierfür ist sicher, dass es keine Schiedsgerichte geben soll. Doch gibt es auch eine andere Machtkonstellation. Ist die EU bei den Verhandlungen mit dem südostasiatischen Staaten deutlich in der dominanten Posi­tion, so gilt dies bei den Verhandlungen mit den USA nicht. Hier herrscht die Angst, dass Sozialstandards der europäischen Staaten durch Nachgeben gegenüber den USA zerstört werden.
Die Hoffnung besteht, dass durch das Abkommen mit Vietnam ein Präzedenzfall für TTIP ­geschaffen wird. Die neue Form des Investorenschutzes im EUVFTA wird derzeit auch den USA vorgelegt – als Grundlage, auf die sich die EU in den weiteren Verhandlungen berufen kann. Dies geschieht möglicherweise allerdings nur, weil die Bundesregierung und die EU in dieser Frage unter erheblichem Druck stehen. Ohnehin dürfte den USA ein Abkommen der EU mit Vietnam relativ egal sein. Überdies ändert die Form des Investorenschutzes nichts an den grundsätzlichen Mechanismen des Freihandels. Dies verstehen weder die lauthals schreienden Kritiker im Westen noch die von Marktöffnung begeisterte vietnamesische Führung. Große Unternehmen, die es sich leisten können, werden auch weiterhin eigene Investitionsverträge abschließen und damit gegen schwächere Staaten wie Vietnam ihre Regeln durchsetzen können.

Bis das Abkommen allerdings tatsächlich in Kraft tritt, wird es noch eine Weile dauern. Der EU-Botschafter in Vietnam, Bruno Angelet, rechnet mit dem Jahr 2018. Davor werden letzte Details geklärt und es läuft der endgültige Ratifizierungsprozess. Grundsätzliche Veränderungen sind allerdings nicht zu erwarten. Das EUVFTA wird – ebenso wie TTIP – kein progressives Abkommen mehr werden und kann es auf Grundlage der kapitalistischen Logik, derer es sich bedient, auch gar nicht sein. Es geht um den Schutz von Inves­titionen und Eigentum. Eine kritische Analyse, die sich nicht nur mit Fragen der Schiedsgerichte beschäftigt, sondern die grundlegenden Strukturen des Freihandels thematisiert, bleibt bisher aus. Speziell in Vietnam ist dies ohne gesicherte Rede- und Demonstrationsfreiheit auch äußerst schwierig. Mögliche Chancen für Gewerkschaften und eine ökologischere Wirtschaft in Vietnam dürfen nicht über die Risiken hinwegtäuschen. In seiner »Rede über die Frage des Freihandels«, die Karl Marx 1848 in Brüssel hielt, beschrieb er, dass die Freiheit des Freihandels nur die Freiheit des Kapitals sein könne. So ist es bis heute. Konkrete Folgen des EUVFTA sind der Schutz und die Anerkennung von europäischen Marken wie »Champagner« und »Roquefort« in Vietnam und nicht die Implementierung sozial-ökologischer Standards. Die vietnamesische Oberschicht kann dann sichergehen, echten Champagner zu trinken. Dass Regierungsvertreter mahnten, trotz der hohen Wachstumsrate müsse mit dem Abschluss von Freihandelsabkommen die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden, spricht hingegen nicht dafür, dass die Zulassung unabhängiger Gewerkschaften geplant ist.