Arabische Blogger treffen sich in Tunis

Hoffnung trotz Terror

Vor fünf Jahren organisierte die Deutsche Welle mit Unterstützung des Bundesaußenministeriums eine Konferenz unabhängiger arabischen Blogger in Kairo. Kurz danach begann der »arabische Frühling«. Anfang Dezember vergangenen Jahres fand in Tunis das Nachfolgetreffen der Blogger statt. Die Stimmung hat sich gewandelt: In der Stadt herrscht eine Ausgangssperre, der »Islamische Staat« bombt und auf der Konferenz wurde über wichtige Themen nicht diskutiert.

Mit der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi in der zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid begann am 17. Dezember 2010 nicht nur die Revolution in Tunesien, sondern die als »arabischer Frühling« bekannte Aufstandsserie in diversen arabischen Ländern. Mittlerweile ist Tunesien keine Diktatur mehr und befindet sich auf dem Weg in die Demokratie, auch wenn die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes weiterhin ungelöst sind.
Die Avenue Habib Bourguiba ist die Prachtstraße von Tunis, vergleichbar mit Unter den Linden in Berlin und den Pariser Champs-Élysées. Hier haben die wichtigsten Banken des Landes ihren Sitz, hier befinden sich die schwer bewachte französische Botschaft und zahlreiche Regierungsbehörden. Alles ist etwas kleiner und bescheidener als in Berlin und Paris, dafür charmanter: Palmen säumen die Bürgersteige, die Restaurants und Cafés sind weniger extravagant und an ihrem Ende, nicht weit entfernt vom Industriehafen, riecht man, wenn der Wind richtig steht, das nahe Meer. Anfang Dezember sind die Temperaturen in Tunis für deutsche Verhältnisse spätsommerlich. Die gesamte Stadt ist grün, das Leben findet auf der Straße statt, Paare flanieren, essen und trinken auch nach Einbruch der Dunkelheit an den zahlreichen Tischen, die sich unter den Markisen drängen. Doch das Nachtleben in der Stadt mit ihren über 700 000 Einwohnern findet ein jähes Ende: Von Mitternacht bis morgens um sechs herrscht Ausgangssperre und so kommt der Verkehr in der Nacht zum Erliegen, in der tagsüber hektischen und lauten Hauptstadt herrscht eine gespenstische Stille.
Zwei schwere Anschläge auf Touristen mit 58 Toten hat der »Islamische Staat« (IS) im vergangenen Jahr verübt: Im März wurden das Nationalmuseum Bardo in Tunis und im Sommer ein Hotel im Badeort Sousse zum Ziel von Attentaten. Im November folgte dann in Tunis ein Anschlag auf die Präsidentengarde mit zwölf Toten. Die Ausgangssperre wurde verlängert, galt ab 21 Uhr und wurde später gelockert.

Touristen aus Europa sind in der Stadt kaum auszumachen. Der IS hat sein Ziel erreicht, mit dem Tourismus einen der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes zu treffen. Auch wenn Experten der Ansicht sind, dass der Terror nicht der alleinige Grund für den Rückgang der Touristenzahlen ist und Tunesien es verpasst habe, seine touristischen Angebote zu modernisieren, haben die Anschläge allemal dafür gesorgt, den Verfall zu beschleunigen und den wirtschaftlichen Druck zu erhöhen. Für die Jihadisten sind das Land und die Mehrheit seiner Bevölkerung das Feindbild par excellence. Auf den Straßen von Tunis tragen weniger Frauen Kopftuch oder Niqab als vermutlich in Berlin-Neukölln, der Dortmunder Nordstadt oder Köln-Mülheim. Pärchen jeden Alters flanieren gemeinsam durch die Straßen, Frauen regeln als Polizistinnen den Verkehr und bringen mit einem beherzten Pfiff auch männliche Autofahrer augenblicklich zum Anhalten ihres Fahrzeuges. In Tunesien wird Prostitution, wenn auch unter erbärmlichen Bedingungen, geduldet, und als ein Mob 2011 versuchte, das einzige Bordell in der Altstadt von Tunis zu stürmen, stellten sich ihm Anwohner und die Polizei entgegen.
Die im Februar vom Parlament beschlossene neue Verfassung garantiert die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Gleichstellung von Mann und Frau. Tunesien wird von der Organisation Freedom House als erstes arabisches Land mit dem Status »frei« bewertet und dies deckt sich mit der Einschätzung der Tunesier selbst: In einer vom Arab Center for Research & Policy Studies im Dezember veröffentlichten Umfrage gaben 81 Prozent der befragten Tunesier an, sie könnten ihre Regierung offen kritisieren. Nur im Libanon gaben dies mit 83 Prozent mehr Bürger an. In Palästina, Saudi-Arabien und dem Sudan glauben das mit 38, 36 und 29 Prozent deutlich weniger Menschen.
Einige Tausend junge Tunesier haben sich dem IS angeschlossen. Nicht immer nur aus Überzeugung, sondern auch, weil der IS ein Gehalt zahlt. Denn so erfreulich die Tunesier ihre politischen Freiheiten einschätzen, ihre wirtschaftliche Lage halten sie zu Recht für miserabel. In der erwähnten Umfrage des Arab Center for Research & Policy Studies schätzte kein Tunesier sie als sehr gut ein, 58 Prozent jedoch als sehr schlecht. Über ein Drittel der Jugendlichen sind arbeitslos und viele, die einen Job haben, verdienen schlecht und sind weit unter ihrer Qualifikation beschäftigt.

Auch im Hotel Majestic an der Avenue de Paris im Zentrum Tunis ist die Krise zu spüren. Das Hotel, erbaut in einer Stilmischung aus arabischer Architektur und fin de siècle, steht bis auf eine Reisegruppe leer. Die Deutsche Welle hat hier mit Unterstützung des Bundesaußenministeriums Blogger und Journalisten aus verschiedenen arabischen Staaten und der Bundesrepublik zusammengebracht. Nach Kairo 2010 und Tunis 2011 ist es das dritte Treffen dieser Art und das erste, das mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum »arabischen Frühling« stattfindet.
Von denen, die in Kairo dabei waren, fehlen viele: Keiner der Ägypter bekam ein Visum. Lina Ben Mhenni, eines der Gesichter der tunesischen Revolution und mehrfach für ihr Engagement und ihren Mut ausgezeichnete Bloggerin, war nicht zu dem Treffen gekommen und auch Blogger aus Syrien und Saudi-Arabien, die in den Jahren zuvor dabei waren, fehlten.
Als 2010 der erste Young Media Summit in Kairo stattfand, war das auch eine Positionierung der Bundesregierung. Die sah in den arabischen Blogs Hoffnungsträger für mehr Pressefreiheit und wollte mit der Veranstaltung auch ein Signal gegen die Verfolgung der Blogger setzen, denn Ben Mhenni war eine Ausnahme. So mutig und offen, wie sie gegen die Herrschaft des damaligen tunesischen Diktators Zine al-Abidine Ben Ali anschrieb, wagte das kaum jemand. Kritik wurde höchstens indirekt geäußert, man mied Politik und schrieb eher über kulturelle und gesellschaftliche Phänomene. Dass Ben Mhenni immer wieder festgenommen wurde, war auch ein Signal an die anderen unabhängigen Autoren, es mit der Kritik nicht zu übertreiben, und 2010 kam das noch bei ihnen an. Viele hatten Angst, offen zu reden. 2015 hat sich das zumindest in einigen arabischen Staaten geändert.
Mohammed Tammem Mahjoub gehört zu der Organisation al-Bawsala, arabisch für »Der Kompass«. Seit 2011 twittert und bloggt er aus dem tunesischen Parlament und seinen Ausschüssen. »Wir berichten, wie die Abgeordneten abgestimmt haben und auch, wer überhaupt anwesend war«, sagt Mahjoub. Anfangs hätten das die meisten Parlamentarier als Affront aufgenommen: »Sie fanden es eine Frechheit, kontrolliert zu werden. Es war viel Überzeugungsarbeit nötig, bis wir auch aus allen Ausschüssen berichten konnten.« Irgendwann aber hätte der Großteil der Abgeordneten verstanden, dass sie von der Arbeit von al-Bawsala profitieren: »Wir bringen den Wählern die Arbeit des Parlaments und der Ausschüsse näher. Und wir zeigen, dass die meisten Abgeordneten ihre Arbeit ehrlich und mit viel Mühe machen, auch indem wir diejenigen benennen, die nicht zu den Sitzungen erscheinen.«
Auch nach der Revolution gäbe es in Tunesien viele, die kein Interesse daran haben, sich an der Politik zu beteiligen. Sie seien von der Politik genervt, die anfängliche Begeisterung an der Demokratie sei verflogen. »Was bringen Informationen über Details? Wir sagen, wer wie abgestimmt hat und wer nicht da war. Das finden dann doch viele interessant.« Und immer wieder deckt al-Bawsala durch ihre Beobachtungen Skandale auf, etwa als ein tunesischer Minister im Dezember bei der Abstimmung über den Etat des Parlaments für einen Freund mitgestimmt hat, der gar nicht anwesend war. »Das haben wir dokumentiert und dann veröffentlicht. Das sorgte für sehr großen Ärger. Der Minister musste sich äußern und sagte, er habe gewusst, wie sein Freund abgestimmt hätte, wenn der denn dagewesen wäre.«

Tunesien ist eine Ausnahme, wenn es um Pressefreiheit geht. Das zeigt das Beispiel von Raki Ba aus Mauretanien. Das nordafrikanische Land am Atlantik gilt als eine Hochburg der Sklaverei. Dass sie mehrfach, zuletzt 2007, offiziell abgeschafft wurde, hat daran nichts geändert. Schätzungen mauretanischer Organisation wie SOS Esclaves gehen von bis zu 600 000 Sklaven in dem Land aus. Träfe das zu, würde jeder fünfte Mensch in Mauretanien in Sklaverei leben. Raki Ba, Tochter eines ehemaligen Regierungsmitglieds und Mitarbeiterin bei SOS Esclaves, hatte in ihrem Blog über die abstoßende Wirklichkeit in ihrem Land berichtet, allerdings nicht lange: Ihr Blog wurde von der gewählten Regierung verboten.
Karima Nadir aus Marokko beschreibt die Situation in einem Land, in dem es Reformen ohne einen radikalen politischen Wechsel gegeben hat: »In Marokko hat die Pressefreiheit einen höheren Stellenwert als noch vor wenigen Jahren.« Selbst der König könne jetzt kritisiert werden, was lange tabu war: »Ein großes Problem ist nach wie vor alles rund um das Thema Westsahara. Journalisten, die im Ausland auf Konferenzen waren, bei denen auch Teilnehmer waren, die sich für die Unabhängigkeit der Westsahara einsetzen, werden in der marokkanischen Öffentlichkeit als Verräter dargestellt.« Marokko beansprucht Westsahara für sich, in der Region selbst gibt es seit dem Rückzug Spaniens mit der Frente Polisario eine Autonomiebewegung für einen von Marokko unabhängigen Staat.

Die Länder mit den größten Problemen waren kein Thema auf der Veranstaltung. Etwa Saudi-Arabien, wo der Blogger Raif Badawi nach wie vor zu Tode gepeitscht werden soll, oder Ägypten, das mittlerweile ein repressiverer Staat ist, als es unter dem 2011 gestürzten autoritären Präsidenten Hosni Mubarak war, und auch über Syrien und den IS wurde nicht gesprochen. Das Ausmaß der Unterdrückung in diesen und anderen Ländern hätte der angenehmen Stimmung auf der Konferenz ein Ende bereitet. Unvermeidlich war allerdings der Themenkomplex Israel und Palästina. Der palästinensische Blogger und Journalist Mohammad Abuallan Draghmeh aus dem Westjordanland beklagte, dass die Arbeitsbedingungen unter der »israelischen Kolonisation« härter seien als die aller anderen arabischen Medienschaffenden, und beschrieb, wie frei man auch in Gaza berichten könne. Allerdings, räumte er auf Nachfrage ein, nur über den »Widerstand« – den Terror gegen Israel. Sowohl die Hamas als auch die Fatah seien hingegen nicht allzu begeistert über Kritik. Eine Situation, die der in Nordkorea wohl nicht unähnlich sein dürfte, wo man sich auch begeistert über Kim Jong-un und die Untaten der US-Imperialisten äußern darf.
Von der Euphorie des ersten Treffens in Kairo vor fünf Jahren war in Tunis nicht mehr viel zu spüren. Die gesamte Veranstaltung verlief routiniert, ihre politische Relevanz wurde offenbar als nicht mehr so wichtig bewertet. 2010 waren die arabischen Staaten weitgehend autoritäre, scheinbar stabile Staaten. Die Forderung nach mehr Pressefreiheit, die von der Bundesregierung damals unterstützt wurde, war verbunden mit der Hoffnung auf kleinere Reformen, nicht auf regime change. Die Situation ist heute eine andere: Libyen, Syrien und der Irak sind keine funktionierenden Staaten mehr und in vielen anderen Ländern hat der islamistische Terror zugenommen. Junge Europäer reisen in die Region, um sich dem IS anzuschließen. Anstatt Pressefreiheit exportiert Europa heute Terroristen. Millionen Menschen sind auf der Flucht, die arabische Welt ist dabei, zu kollabieren und auf Jahrzehnte in Krieg, Unterdrückung und Rückständigkeit zu versinken.
Tunesien ist neben Kurdistan und dem Libanon einer der wenigen Hoffnungsträger in der Region, trotz der Korruption, trotz der Armut, trotz der Tausenden Tunesier, die sich dem IS angeschlossen haben, und trotz der Anschläge, die dem Land die Hoffnung nehmen sollen.

Tunesien hätte jede Hilfe verdient: politisch, wirtschaftlich und, wenn es darauf ankommt, auch militärisch. Das Land kämpft für seine Demokratie. Es aufzugeben, würde bedeuten, die Hoffnung von Millionen Menschen zu enttäuschen. Schon heute prägt der Terror Tunis. An den großen Einfallstraßen hat das Militär Posten bezogen, im Regierungsviertel patrouilliert die Armee mit Humvees mit aufgesteckten Maschinengewehr und immer wieder sieht man in der Innenstadt bewaffnete Polizeieinheiten. Der Terror verändert das Land. Er darf es nicht zerstören.