Der Dokumentarfim »Je suis Charlie«

»Sie sind Helden«

Der großartige Dokumentarfilm »Je suis Charlie« schildert die Geschichte der Kontroverse um Blasphemie und plädiert für die Verteidigung der Kunstfreiheit.

Vermutlich gibt es niemanden, der berufener war, diesen Film über Charlie Hebdo zu drehen, als Daniel Leconte. Der französische Journalist und Regisseur verfügt nicht nur über inzwischen historisches Filmmaterial der ermordeten Redakteure, sondern besitzt auch das Vertrauen der überlebenden Redaktionsmitglieder. Man kennt sich aus der früheren Zusammenarbeit; »Je suis Charlie« ist bereits der zweite Dokumentarfilm Lecontes über das Magazin. Leconte interessierte die Kontroverse um Blasphemie schon zu einem Zeitpunkt, als Solidarität mit »Charlie« noch keinen politisch-moralischen Gratisgewinn versprach.
2006 bis 2007 begleitete er mit der Kamera den Mohammed-Karikaturenprozess, den der muslimische Dachverband wegen Beleidigung des Religionsstifters gegen den Verlag führte. Es ging um eine Sonderausgabe mit Mohammed-Karikaturen. Auf dem legendären Titel schlug ein entnervter Prophet die Hände vors Gesicht und rief: »C’est dur d’être aimé par des cons...« (Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden...) So lautete dann auch der Titel von Lecontes erstem Film.
Das umstrittene Cover stammte von Cabu, zeichnerisches Urgestein bei Charlie Hebdo und eines der elf Opfer des Anschlags vom 7. Januar 2015. Er habe gewusst, dass seine Karikatur nicht allen gefallen würde, aber die Welle von Hass-Mails habe er nicht erwartet, sagte Cabu 2006 im Interview mit Leconte. Sein Cartoon sei ein Statement gegen den Extremismus, eine Verteidigung der Religionsfreiheit gegen die Inanspruchnahme durch Terroristen. Mit diesen und anderen Aufnahmen des ersten Films beginnt »Je suis Charlie«. Den Gerichtsprozess betrachten Daniel Leconte und sein Sohn und Co-Regisseur Emmanuel Leconte als Matrix für den Anschlag; er bildet auch das erste Kapitel des neuen Films.
»Sie sind Helden«, kommentiert die Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter 2007 vor dem Gerichtsgebäude den Prozess. Die Zeichner und Redakteure stünden für die Meinungsfreiheit insgesamt ein und seien bereit, dafür Risiken einzugehen, die andere längst vermieden.
Charb kommt zu Wort; ein junger Typ, der durch dicke Brillengläser in die Welt schaut. Der Prozess ist gerade überstanden, der Verlag hat gewonnen. Kein Grund für ihn, jetzt provokanter zu werden, aber vorsichtiger will er auch nicht sein. »Ich werde weitermachen wie bisher«, sagt Charb. Er wolle nicht die Muslime treffen, sondern die Extremisten. »Wenn ich Katholik wäre, müsste ich mir das auch alles gefallen lassen.« Das klingt unbekümmert, fast schon naiv, aber auch immer noch fassungslos. Ihm steht dies »Was wollen die bloß?« ins Gesicht geschrieben.
Knapp zehn Jahre später ereignet sich der Anschlag. Das blutige Kapitel erzählen im Film die Davongekommenen: die Zeichnerin Coco, der neue Chefredakteur Riss, der Anwalt Richard Malka und der Finanzdirektor Eric Portheault. Es war der Tag, an dem Charlie Hebdo mit dem Schriftsteller Michel Houellebecq aufmachte. Auf der Redaktionskonferenz sei es zugegangen wie immer, Diskussionen, Witzchen und zwischendurch Biscuits für den Hund von Eric Portheault. Streitpunkt: Jihadismus. Warum ist der Terrorismus für die Vorstadtjugend so attraktiv? Schlagabtausch zwischen Zeichner Tignous und Wirtschaftskolumnist Bernhard Maris. Tignous verweist auf die prekären sozialen Verhältnisse, Maris auf Transferzahlungen, Integrationsprojekte.
Sie sei bester Laune gewesen, erinnert sich Coco, als sie am Mittag das Redaktionsgebäude verließ. Coco, eine Zeichnerin mit Piercing und Pandabär-Tattoo, ist die Person, die von den Tätern zur Komplizenschaft genötigt wurde. Die Terroristen sprachen sie mit ihrem Künstlernamen an, Coco, und sagten: »Wir wollen Charb.« Die Kalaschnikow im Nacken, gab sie den Code für die Sicherheitstür ein.
Riss und Eric Portheault rekonstruieren mit nüchternen Worten den Ablauf des Massakers, sie wollen nicht zu viel sagen aus Rücksicht auf die Angehörigen. Es sei klar gewesen, dass der Angriff hauptsächlich Charb galt. Die Terroristen hätten ihn erschossen und seien nach einiger Zeit noch mal an den am Boden liegenden Leichnam herangetreten. Sie wollten sichergehen, dass der Verstümmelte sich nicht mehr regte, und feuerten ein zweites Mal auf ihn. Mustapha, der algerischstämmige Lektor, sei dagegen mit betonter Gleichgültigkeit beim Rauslaufen erschossen worden.
Das Massaker in der Redaktion steht im Zentrum der Dokumentation; dennoch vergessen die Filmemacher nicht die weiteren Attentate, den Polizistenmord in Montrouge, die Geiselnahme mit vier Toten in einem jüdischen Supermarkt und den Anschlag in Fontenay-aux-Roses. Das Foto der ermordeten schwarzen Polizistin Clarissa Jean-Philippe werden viele Zuschauer vielleicht im Kino zum ersten Mal sehen. »Je suis Charlie« ist vor allem eine Hommage an die das Blatt prägenden Künstler, an Charb, Cabu, Wolinski, aber auch die nichtprominenten Opfer sind repräsentiert. Nicht nur aus Respekt vor den Toten, sondern auch, um den Charakter der Anschläge als Angriff auf die universalen Werte deutlich zu machen. Gérard Biard, Verlagsleiter von Charlie Hebdo, warnt zudem davor, den Anschlag auf den koscheren Supermarkt lediglich als einen Nebenschauplatz zu betrachten. Islamistische Anschläge wollten immer die Juden treffen.
Der Film zeigt Ausschnitte aus der Pressekonferenz der Angehörigen des erschossenen muslimischen Polizisten Ahmed Merabet. Die Worte, die der Bruder des Ermordeten an die Öffentlichkeit richtet, könnten so auch von Charb stammen. »An die Rassisten«, sagt er mit fester Stimme, »bringt jetzt bloß nicht Muslime und Extremisten durcheinander.«
Es gibt in diesem Film viele pathetische Momente. Das unterscheidet ihn von der analytischen Prozessdokumentation »C’est dur d’être aimé par des cons«. Für eine Weile schwelgt »Je suis Charlie« in der Solidarität, die sich in den Tagen nach dem Massaker Bahn brach. Man sieht die bewegenden Aufnahmen der Kundgebung vom 11. Januar 2015. Die überlebenden Mitarbeiter mit weißem »Charlie«-Stirnband, die jüdische Gemeinde und die Angehörigen der Opfer von Porte Vincennes, die Fahnenschwenker und die Schilder mit »Je suis Charlie … Juif … Musulman … Policier … Catholique«. Man sieht das Staatsbegräbnis, die Beisetzung der jüdischen Opfer in Israel, die Gesichter weinender Demonstranten und hört die Stimme von Präsident François Hollande. Die Musik des großartigen Soundtracks tut ein Übriges, die Szenerie zu überhöhen. Irgendwann wird einem das zu viel. Es ist das Kalkül des Films; die »Charlie«-Solidarität wurde klebrig. »Wo waren sie alle, als man sie brauchte«, kommentiert ein entnervter Eric Portheault die Belagerung durch die Presse nach dem Anschlag.
Charlie Hebdo sei für viele Franzosen wie der Eiffelturm, glaubt Riss, etwas, das man schon als Kind gekannt hat, etwas, das selbstverständlich immer da war. Umso schockierender sei das Gefühl, dass man dies alles verlieren könne. Die große öffentliche Anteilnahme habe ihnen gut getan, erzählen die Redakteure. Es schien, als ob die Leute aufgewacht seien und begriffen hätten, dass sie sich gegen den Extremismus engagieren müssen. Man habe für einen Moment nicht mehr allein dagestanden, aber man habe gewusst, dass sich die öffentliche Meinung auch schnell wieder ändern könne. Auch dieses Kapitel wird im Film erzählt: »Ja, der Terrorismus ist zu verurteilen, aber ... Vielleicht seid ihr zu weit gegangen ...«
Nach dem Prozess 2006/2007 war Charlie Hebdo marginalisiert. Vor dem Gerichtsstreit waren es wenige, die die Positionen des Magazins verteidigen wollten, nach dem Prozess waren es noch weniger. Erst der Schock des Anschlags habe eine zeitweilige Solidarisierung bewirkt. Der Film hat dazu eine unbequeme These, die er in Form einer Frage im Off-Kommentar formuliert: Könnte es sein, dass es das Massaker bei Charlie Hebdo nicht gegeben hätte, wenn alle Zeitungen auf dem Höhepunkt der Kontroverse die Karikaturen des Propheten nachgedruckt hätten?
»Je suis Charlie« ist kein Film, der mit Mohammed-Comics provoziert. Wie der Film die Cartoons auf die Leinwand bringt, wie die Kamera die oft komplexen Zeichnungen einfängt und den Witz als Ergebnis intellektueller Auseinandersetzungen inszeniert, das ist großartig gemacht. Am Ende aber baut der Film auf die Wucht des Arguments und fordert dazu auf, die Meinungsfreiheit zu verteidigen.

Je suis Charlie (Frankreich 2015). Dokumentation von Daniel und Emmanuel Leconte. Filmstart: 7. Januar