Der Zusammenhalt der EU bröckelt

Zurück zur Insel

Im neuen Jahr wird weiter um den Fortbestand der EU gebangt.

So viel Untergang war selten. Kaum hat das neue Jahr begonnen, werden die ersten Nachrufe auf Europa verfasst. »Das Scheitern Europas ist ein realistisches Szenario«, sagt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). »Die Europäische Union kann auseinanderbrechen«, warnt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Angesichts der zahlreichen Krisen scheint es tatsächlich nicht mehr ausgeschlossen, dass der Traum von einem geeinten Europa platzt.
In Osteuropa greifen völkisch-nationalistische Parteien nach dem Vorbild der ungarischen Regierung nach der Macht, auch in Frankreich und Österreich fehlt nicht mehr viel dazu. Im Umgang mit den Flüchtlingen ist die EU heillos zerstritten. Infolgedessen droht sogar die Freizügigkeit, eine der größten Errungenschaften Europas, zu schwinden. Auch an der Schuldenkrise, allen voran in Griechenland, hat sich wenig geändert. Die EU ist derzeit nicht viel mehr als ein Haufen einzelstaatlicher Interessen, die sich allenthalben widersprechen.
So auch in Großbritannien, wo Premierminister David Cameron für den Sommer ein Referendum über den Verbleib des Landes in der EU angekündigt hat. Zum ersten Mal könnte damit ein EU-Mitglied die Gemeinschaft verlassen. Es wäre eine historische Zäsur. Der Ausstieg wäre wohl der definitive Beweis, dass es sich bei der europäischen Integration nicht um einen stetig voranschreitenden Prozess handelt, sondern um ein zeitlich befristetes Experiment. Auf Großbritannien könnten bald Finnland, Dänemark und weitere Staaten folgen.
Für die EU wären nicht nur die politischen Konsequenzen gravierend, schließlich ist Großbritannien einer der wichtigsten Nettozahler in der EU. Mit London würde sie zudem die neben Frankfurt einzig relevante Finanzmetropole in Europa verlieren. Darin liegt die Hoffung vieler britischer EU-Gegner, die sich Großbritannien als eine Art neoimperiales Singapur vorstellen, als monetäre Drehscheibe zwischen Asien, Australien und Nordamerika. Weniger euphorisch sind hingegen viele britische Unternehmer und ausländische Investoren, die bei einem britischen EU-Austritt ihren direkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt verlieren. Immerhin stehen die anderen EU-Länder für ungefähr die Hälfte des britischen Außenhandels. Der britische Industrieverband CBI hat berechnet, dass etwa fünf Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung auf die EU-Mitgliedschaft zurückzuführen seien. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom vergangenen Jahr könnte nach einem EU-Austritt das britische Bruttosozialprodukt sogar um bis zu 14 Prozent, rund 300 Milliarden Euro, schrumpfen. Hinzu kommt, dass nach dem Austritt bald ein weiteres Referendum auf die Briten zukommen könnte: Gut möglich, dass Schottland dann doch noch aus dem Königreich ausscheidet. Nicht nur die Union droht zu zerfallen, sondern auch Großbritannien.
Um einen britischen EU-Austritt zu verhindern, sind die EU-Regierungen mittlerweile bereit, britischen Forderungen weit entgegenzukommen, darunter die Kappung von Sozialleistungen für EU-Ausländer, die in Großbritannien arbeiten. Dass solche Zugeständnisse die Briten dazu bewegen können, im Sommer für einen Verbleib in der EU zu stimmen, ist zweifelhaft. Sicher ist nur, dass solche Beschlüsse die nationalistische und xenophobe Stimmung in Europa weiter stärken.