Zwischen Autokratie und Aufstand
»Martelly muss weg« war der Schlachtruf der Demonstrierenden, die vor Weihnachten in Port-au-Prince und anderen Städten Haitis auf die Straße gingen, nachdem die Wahlkommission bekanntgegeben hatte, die für den 27. Dezember geplanten Stichwahlen zur Präsidentschaft erneut zu verschieben. Der Machtkampf im von Armut und Oligarchie geprägten Haiti geht damit in die nächste Runde.
»Banana man« nannte sich Jovenel Moïse im Wahlkampf stolz. Der 37jährige Bananenplantagenbesitzer hat der Wahlkommission zufolge die erste Runde der Präsidentschaftswahl gewonnen. 32 Prozent der Stimmen soll Moïse, der keine politische Erfahrung hat, aber vom amtierenden Präsident Michel Martelly unterstützt wird, am 25. Oktober erhalten haben. Zweitplatzierter ist demnach Jude Celestin, ehemaliger Leiter der haitianischen Baubehörde und Vorsitzender der Partei für Fortschritt und Emanzipation Haitis, mit 25 Prozent der Stimmen.
Doch Opposition, Menschenrechtsgruppen und Wahlbeobachter werfen der Regierung und der von ihr ernannten Wahlkommission Manipulation und Bestechung vor. Martelly klammere sich an die Macht und versuche, mit Moïse einem ihm genehmen Kandidaten die Präsidentschaft zu verschaffen. Einer Umfrage des brasilianischen Instituts Igarapé an 135 Wahlstationen zufolge haben 40 Prozent der Befragten, für Celestin gestimmt; nur sechs Prozent für den Sieger Moïse. Letzterer gehöre nicht zum politischen Establishment und habe den »unternehmerischen Geist«, den das Land brauche, sagt dagegen Präsident Martelly. Moïse hat mit einer Autowerkstatt angefangen, voriges Jahr gründete er die Bananenexportfirma Agraritrans – mit Hilfe eines Kredits der Regierung in Höhe von sechs Millionen US-Dollar.
Der Machtkampf zwischen Opposition und Regierung schwelt schon seit über zwei Jahren. Seit Januar 2015 regiert Martelly per Dekret, weil das Parlament nach Auslaufen seines Mandats aufgelöst worden war. Die überfälligen Parlamentswahlen fanden erst im August 2015 statt, erzwungen durch wochenlange landesweite Proteste.
»Dèyè môn, gen môn« lautet ein haitianisches Sprichwort: »Nach den Bergen kommen mehr Berge.« Die erste von Schwarzen gegründete Republik der Welt erlebte seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Serie von Militärputschen. Von 1957 bis zu seinem Tod 1971 regierte François »Papa Doc« Duvalier, sein Sohn und Nachfolger Jean-Claude »Baby Doc« Duvalier wurde 1986 durch einen Aufstand ins Exil vertrieben. Auf die Diktatur folgten Militärputsche, politische Gewalt und Wahlfälschung. Seit Mitte der neunziger Jahre stabilisierte sich die politische Lage langsam, 2011 erfolgte die Regierungsübernahme des gewählten Präsidenten Michel Martelly.
Martelly, ein ehemaliger Musiker, versprach vor allem Wirtschaftswachstum, er wollte den Tourismus-Boom der »goldenen fünfziger Jahre« zurückbringen. Im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre leben drei Viertel der Bevölkerung von weniger als zwei US-Dollar pro Tag, 1,5 Millionen Menschen sind unterernährt. Noch immer leidet das Land zudem unter den Folgen des verheerenden Erdbebens von 2010. Damals starben 220 000 Menschen, 1,5 Millionen wurden obdachlos. Trotz jahrelanger Aufbauarbeit leben nach Angaben von Amnesty International noch immer 85 000 Haitianer in Zeltstädten.
Im vergangenen Jahr hat sich die wirtschaftliche Situation wieder verschlechtert. Der Wert der haitianischen Gourde ist gefallen, die Inflation liegt mittlerweile bei elf Prozent pro Jahr, eine Dürre sorgte für schlechte Ernten. Von neu errichteten touristischen Einrichtungen wie einem Luxushotel in Port-au-Prince und einem Kreuzfahrtterminal profitieren nur wenige.
Haiti erlebe unter Martelly eine Rückkehr zur Autokratie, resümiert Amy Wilentz im linken US-Magazin The Nation. Der Präsident habe aus seiner Sympathie für das Duvalier-Regime nie einen Hehl gemacht. Martelly erlaubte 2011 die Rückkehr von »Baby Doc« nach Haiti und pries diesen nach seinem Tod 2014 als »authentischen Sohn Haitis«. Oppositionelle machen Martelly zudem verantwortlich für Gewalttaten wie die nächtlichen Schüsse auf das Redaktionsgebäude des kritischen Radiosenders Kiskeya im Dezember.
Mit Wasserwerfern, Tränengas, Schlagstöcken und Massenverhaftungen ging insbesonders die 2014 gegründete paramilitärische Brigade d’Opération et d’Intervention Départementale in den vergangenen Montaten gegen Demonstrationen, Streiks und Straßenblockaden vor. Eine Hauptforderung der Protestierenden ist deshalb die Auflösung der Einheit. Präsident Martelly jedoch spricht immer wieder von der »Rückkehr« des 1995 demobilisierten Militärs.
Unterdessen bombardiert Moïse Haiti mit Wahlkampfmaterial – als einziger. Deswegen könnte die Verschiebung der Wahlen, offiziell vorgenommen zur Untersuchung der Vorwürfe der Opposition, ihm den entscheidenden Vorteil bringen. Eine von der Regierung ernannte »unabhängige Kommission« erklärte am 1. Januar, es habe Unregelmäßigkeiten gegeben, etwa durchgestrichene oder falsch gezählte Wahlzettel, und empfahl Strafverfahren gegen Wahlhelfer. Sie sah aber keinen Anlass, die Wahlen zu annullieren, wie von der Opposition gefordert.
Celestin hingegen hat sich dem Wahlboykott einer Gruppe von acht Oppositionskandidaten, den sogenannten G8, angeschlossen und spekuliert offenbar auf deren Unterstützung in letzter Minute. Ende Dezember erklärte jedoch Moise Jean-Charles, der Kandidat der drittplatzierten Partei Pitit Dessalines, Celestin nicht zu unterstützen, denn dieser sei »Teil der traditionellen ökonomischen Elite, die das Land seit zwei Jahrhunderten in Geiselhaft hält«.