Es gibt Parallelen zwischen den Ereignissen auf dem Tahir-Platz und denen in Köln

Kein Frühling in Köln

Auf dem Tahrir-Platz in Kairo wurde sexuelle Gewalt gezielt als Mittel eingesetzt, um Frauen zu terrorisieren. Die Ereignisse in Köln erinnern daran.

Banden junger Männer, die gezielte sexuelle Übergriffe auf Frauen im öffentlichen Raum begehen? Der Vergleich war schnell zur Hand: Köln in der Silvesternacht erinnere doch an die Szenen vor fünf Jahren auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo es immer wieder zu heftigen sexuellen Angriffen auf und Massenvergewaltigungen von Frauen kam. Schnell waren die rechten Verschwörungstheoretiker der Seite »Noch ein Parteibuch« dann auch mit dem Vergleich zur Hand und erklärten: »Der arabische Frühling erreicht Köln«, in seriöseren Medien beeilte man sich ebenfalls, entsprechende Parallelen zu ziehen.
Und in der Tat ließe sich im Rückblick von den Ereignissen, die vor fünf Jahren begannen, als sich in Kairo Hunderttausende versammelten, um den Sturz von Präsident Mubarak zu fordern, einiges lernen. Denn schon sehr früh wurde von brutalen sexuellen Übergriffen berichtet, die von organisierten Gruppen ausgingen und Demons­trantinnen auf dem Platz terrorisierten.
Sexualisierte Gewalt und Belästigungen waren in Ägypten – wie in der ganzen Region – keineswegs etwas Neues. Frauen werden und wurden ständig auf der Straße begrabscht und angemacht. 2008, lange vor Ausbruch des »arabischen Frühlings«, berichtete eine damals noch weitgehend unbeachtete Studie, dass 80 Prozent aller befragten ägyptischen Frauen schon einmal Opfer sexueller Gewalt gewesen seien. Aber auch staatliche Sicherheitskräfte demütigen und missbrauchen Frauen regelmäßig; in Kairo etwa erinnert man sich sehr gut noch an das Jahr 2005, als Polizisten Mubarak-Anhänger anfeuerten, die auf Demonstrantinnen losgingen. Und dass überall in den Gefängnissen des Nahen Ostens Vergewaltigungen von Frauen, aber auch Männern, zum Alltag gehören, ist jedem, der es wissen will, seit Jahrzehnten bekannt.
Als also auf dem Tahrir-Platz junge Männer organisiert äußerst brutal und gezielt Frauen sexuell belästigten, schien für viele Demonstranten der Fall klar. Diese Banden seien, hörte man damals immer wieder in Interviews mit Frauenrechtlerinnen, ganz sicher von der Geheimpolizei angestiftet, um Angst zu verbreiten und vor allem Frauen davon abzuhalten, sich der Protestbewegung anzuschließen. Von staatlichen Stellen sowie von islamistischen Organisationen geförderte sexuelle Gewalt zielt nämlich bewusst auf »Entehrung« der Frau und damit der gesamten Familie, gelten Frauen doch in der islamischen Welt als Gefäß dieser Ehre. »Frauen, die auf den Tahrir-Platz gehen, haben kein Schamgefühl und wollen vergewaltigt werden«, erklärte ein führender salafistischer Kleriker.
Und so verwundert es wenig, dass auch unter der kurzen Regierungszeit des Muslimbruders Mohammed Mursi diese Übergriffe unvermindert weitergingen. Nur war inzwischen ein Tabu gebrochen. Galt es bis in den Frühling 2011 als beschämend und ungehörig, sexuelle Belästigungen, ja selbst Vergewaltigungen zur Anzeige zu bringen oder überhaupt öffentlich darüber zu sprechen, wurde sexual harassment nun erstmals zu einem öffentlich heftig diskutierten Thema. Freiwilligenorganisationen gründeten sich, die bei Demonstrationen Frauen vor solch gezielten Angriffen zu schützen versuchten, und auch der Ruf nach einem entsprechenden Gesetz wurde lauter. Ein solches Gesetz trat dann 2014 auch in Kraft. Zugleich wurde eine Einheit innerhalb der Polizei zur Ahndung sexueller Gewalt geschaffen und es kam sogar zu Verhaftungen von Männern, die im Verdacht standen, Frauen sexuell belästigt zu haben. Diese Schritte, die von Menschenrechtsorganisationen noch immer als unzureichend kritisiert werden, gelten immerhin als einer der wenigen Erfolge, die der Protestbewegung geblieben sind, seit in Ägypten unter Präsident Abd al-Fattah al-Sisi erneut ein repressives Regime herrscht. Die tägliche Gewalt gegen Frauen, egal ob in der Familie oder auf der Straße, ist mit dem Gesetz keineswegs eingedämmt oder gar behoben, und doch hat sich etwas Grundlegendes geändert: Nicht nur in Ägypten, überall in der Region wird diese bisher von Staat, Gesellschaft und Religion wo nicht gebilligte, da doch geduldete Gewalt nicht mehr unwidersprochen hingenommen.
Die Banden junger Männer, die in der Silvesternacht Passantinnen auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz angriffen, verhielten sich, als handele es sich dabei um Frauen auf einem Tahrir-Platz in der arabischen Welt. Und deshalb erreichte auch keineswegs der »arabische Frühling« nun Köln. Eher ist das Gegenteil der Fall.