20 Jahre nach den Brandanschlägen von Lübeck

Bloß kein deutscher Täter

Im Jahr 1996 starben in Lübeck zehn Asylsuchende durch ein Feuer in ihrem Wohnhaus. Auch 20 Jahre später ist der Brandstifter nicht gefunden, obwohl es ­Verdächtige gab. Vor Gericht stand lediglich einer der Flüchtlinge.

Es ist kalt in Lübeck in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1996, knapp unter null Grad. Und es ist so ruhig in der Stadt, wie es für eine Winternacht unter der Woche zu erwarten ist. Doch um 3.41 Uhr geht ein Notruf bei der Polizei ein. In der Hafenstraße, nördlich der historischen Innenstadt, brennt es. Wenig später trifft die Feuerwehr ein und bringt den Brand unter Kontrolle. Sie ist schnell zur Stelle, weil sie vorher schon wegen eines Fehlalarms ausgerückt war. Dennoch kann sie nicht verhindern, dass zehn Menschen in den Flammen und dem Rauch ums Leben kommen. Die meisten anderen der insgesamt 48 Menschen, die sich zur Brandzeit in dem Haus befinden, erleiden Verletzungen, einige von ihnen schwere.

In der Hafenstraße 52 lebten damals Asylsuchende aus dem Libanon, aus Togo, aus Angola und dem damaligen Zaire. Seit der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik im Jahr 1990 hatte eine Welle rechtsextremer und rassistischer Gewalt das Land überzogen. Die Zahl der Toten in den ersten fünf Jahren des neuen, größeren Deutschland lag selbst vorsichtigen Schätzungen zufolge bei über 60. Deutsche Angreifer steckten immer wieder auch von Asylsuchenden oder Migranten bewohnte Häuser in Brand, unter anderem 1991 in Saarlouis, 1992 in Lampertheim, Hörstel und Mölln, 1993 in Solingen. Und das sind nur solche Fälle, bei denen Menschen in den Flammen umkamen. Die Zahl der Brände, die für die Bewohner glimpflich ausgingen, lag um ein Vielfaches höher.
Es war also durchaus naheliegend, auch in Lübeck von einem Brandanschlag auszugehen – zumal in den beiden Jahren zuvor zwei Mal versucht worden war, die Lübecker Synagoge in Brand zu setzen. Außerdem nahm die Polizei in unmittelbarer Nähe zum Tatort die Personalien von drei Jugendlichen aus dem mecklenburgischen Grevesmühlen auf, die allesamt zumindest zeitweise der rechtsextremen Szene nahegestanden hatten. Einer von ihnen, Maik W., hörte auf den vielsagenden Spitznamen »Klein-Adolf«. Doch nicht nur das: Sie alle hatten versengte Haare, Wimpern und Augenbrauen, wofür sie abwegige Erklärungrn gaben. Einer von ihnen wollte sich die Brandspuren beim Traktieren eines Hundes mit Spraydose und Feuerzeug zugezogen haben, ein anderer, als er beim Abzapfen von Benzin versucht habe, den Tank eines Mofas mit einem Feuerzeug auszuleuchten. Der dritte schließlich gab mal an, er sei bei der Sache mit dem Hund dabei gewesen, mal, er habe Probleme beim Anzünden eines Ofens gehabt.
Die Polizei ließ den Verdacht gegen die drei ­jedoch schnell fallen. Sie schien sich nicht sonderlich für die jungen Männer zu interessieren und wirkte fast schon bemüht, aufkommende Verdachtsmomente gegen die drei schnellstmöglich öffentlich zu zerstreuen. Die absurden Erklärungen der Brandspuren stellte die Polizei nicht in Frage. Die Vorgehensweise der ermittelnden Beamten lässt sich rückblickend einfach erklären: Ein Rettungssanitäter hatte angegeben, einer der Bewohner des Hauses, der aus dem Libanon geflüchtete Safwan Eid, habe ihm gegenüber die Tat gestanden. »Wir waren es«, habe er gesagt. Für Polizei und Staatsanwaltschaft war das ein nahezu unwiderlegbarer Beweis – und die drei Männer aus Mecklenburg waren somit unschuldig.

Tatsächlich wurde Anklage gegen Eid erhoben. Sie wurde auch dann noch aufrechterhalten, als der vermeintliche Belastungszeuge sich zunehmend in Widersprüche verwickelte und den Inhalt seiner Aussage mehrfach drastisch änderte. Sie wurde auch weiterhin aufrechterhalten, als unabhängige Brandexperten die Vermutungen der Polizei über den Hergang der Brandstiftung grundlegend in Frage stellten beziehungsweise letztlich eindeutig widerlegten. Doch die Behörden blieben dabei: Nur ein Streit unter den Bewohnern konnte der Auslöser für die Tat gewesen sein, und auch viele Medien sprangen den Ermittlern bei. Immer wieder wurde die These aufgestellt, Afrikaner und Araber könnten, weil sie so verschieden seien, nicht friedlich miteinander unter einem Dach leben. »In dem 100 Jahre alten Haus, hellhörig, eng, überfüllt, gab es öfter Zoff«, berichtete etwa der Spiegel nach dem Anschlag. »Die Moslems, abstinent und eher prüde, beschwerten sich über Zechgelage ihrer lebenshungrigen afrikanischen Nachbarn, über bis spät abends aufgedrehte Verstärker, über nächtliche Tanzpartys auf den Fluren«, schrieb das Magazin über »die vielen Widersprüche der Lübecker Tragödie«.
Safwan Eid wurde schließlich in zwei Instanzen freigesprochen. Doch da hatte er schon mehrere Monate unschuldig in Untersuchungshaft gesessen. Maik W. brüstete sich zwei Jahre später, als er in Neustrelitz wegen Autodiebstahls einsaß, vor Mithäftlingen damit, er sei an dem Brandanschlag beteiligt gewesen. Doch selbst da ließen die Behörden keinen Willen zur Strafverfolgung erkennen. Zwar kamen Beamte der Lübecker Kriminalpolizei in das Gefängnis und sprachen mit W., doch sie schienen wenig Interesse daran zu haben, ihm ein Geständnis zu entlocken. Wenig später sagte ein Beamter der Justizvollzugsanstalt dem Spiegel, ihn hätte das Gefühl beschlichen, die Kriminalbeamten seien gekommen »mit der Maßgabe, ihm das auszureden«.
So bleibt weiterhin offiziell ungeklärt, was genau in der Nacht zum 18. Januar 1996 in der Lübecker Hafenstraße geschah. Alles deutet darauf hin, dass es sich um Brandstiftung handelte und die Täter nicht zu den Hausbewohnern gehörten. Zehn Menschen kamen in jener Nacht ums Leben. Sollte es sich bei der Tat um einen ras­sistischen Brandanschlag gehandelt haben – was bei weitem am wahrscheinlichsten ist –, dann war dies nach dem Oktoberfest-Attentat von 1980 der zweitschwerste rechtsextreme Terrorakt in der Geschichte der Bundesrepublik.
Wie im Fall des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) suchte die Polizei die Täter zunächst im Kreis der Opfer. Ebenso wie beim NSU lesen sich Berichte über die Ermittlungen wie eine einzige Aneinanderreihung von Schlampereien und Fehleinschätzungen, kurz: wie Auf­klärungsverhinderung. Beweisstücke wurden nicht gesichert oder verschwanden, Alibis bestenfalls halbherzig überprüft und unabhängige Sachverständige nicht ernst genommen. Stattdessen wurden die Opfer überwacht und abgehört. Die Polizei tat alles dafür, dass kein Deutscher als Täter ermittelt wird. Deutschlands Ruf in der Welt sollte keinen Schaden nehmen.

20 Jahre später legen Deutsche wieder Feuer in Häusern, in denen Asylsuchende leben oder einziehen sollen. Auch in Lübeck hat es erneut gebrannt. Im vergangenen Juni legte jemand in dem Rohbau einer geplanten Asylbewerberunterkunft im Stadtteil Kücknitz an zwei Stellen Feuer. Zwei Monate später zerstörten Angreifer die Scheiben an einer weiteren geplanten Unterkunft im Stadtteil Marli. In beiden Fällen konnte die Polizei Verdächtige ermitteln. Häufig bleiben solche Untersuchungen zurzeit aber ergebnislos.
Dass es bei der Zahl der Anschläge der vergangenen Monate noch keine Todesopfer gegeben hat, gleicht fast schon einem Wunder. Dass mit einem Ende rassistischer Gewalt nicht zu rechnen ist, hat Kibolo Katuta bereits vor 20 Jahren prognostiziert. »Das wird in Deutschland niemals enden«, sagte der Mann, einer der Überlebenden der Hafenstraße 52, nur wenige Monate nach dem Anschlag einer Zeitung. »Das ist die Ideologie, die Hitler hinterlassen hat.«