Die Islamisierung in der Türkei

Der Vater und die Fremden

Recep Tayyip Erdoğan versprach Gleichheit durch religiöse Einheit und regiert durch die Ausgrenzung jener, die er zu Staatsfeinden erklärt.

Am 13. Januar, einen Tag nach dem Selbstmordattentat in Istanbul, wandte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan dem aus seiner Sicht eigentlichen Staatsfeind zu und drohte jenen Professoren und Doktoranden türkischer Universitäten, die in einem antimilitaristischen Aufruf ein Ende der Aggression gegen die Kurdinnen und Kurden im Südosten des Landes verlangen: »Ihr seid keine Intellektuellen, ihr seid ignorant und umnachtet, ihr wisst nichts über den Osten oder den Südosten. Wir kennen diese Region so gut wie eure Wohnadressen.« Unlängst begannen Verhaftungen von Mitunterzeichnern, sie sollen sich der »Propaganda für eine terroristische Organisation« sowie der »Beleidigung der türkischen Nation, des Staates, seiner Institutionen und Organe« schuldig gemacht haben.
Aus Erdoğan spricht nicht nur der Hass auf den Intellekt, der sich nicht als Brüllvieh hergibt – abtrünnig, die Einheit untergrabend und somit für ihn Objekt der Strafverfolgung –, es spricht aus ihm auch die narzisstische Kränkung, dass er sich von Geistesmenschen aus dem Überbau einer anachronistischen Republik über den Südosten belehren lassen soll. War es doch Erdoğan selbst, der Türken und Kurden als Brüder unter Wahrung der territorialen Integrität des Landes einen wollte; Erdoğan war es auch, der dem Südosten den Koran auf Kurmancî schenkte und dem morgendlichen Treueschwur der Schüler und Schüler­innen »Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke« auf die zu verinnerlichende Türkisierung 2013 abschaffte. Als Millî Görüş, eine Erweckungsbewegung des politischen Islam, in den siebziger Jahren ihre ersten Parteien hervorbrachte, etablierten diese sich zunächst vor allem im halbfeudalen Südosten. Die vereinende Ideologie der Muslimbrüder, aus denen die AKP hervorgegangen ist, die eine aus dem Glauben geborene Nation (osmanisch: Millet) propagierte, versprach den dem Türkisierungsregime Unterworfenen eine Versöhnung mit dem Staat.
Unter Erdoğan deckte das vorgetäuschte Aufknacken nationalistischer Dogmen die Entmachtung der republikanischen Traditionalisten in Militär und Staatsapparat. Und während die Repression gegen die organisierte Opposition anhielt – die prokurdische Partei Barış ve Demokrasi Partisi (BDP) gibt 7 748 Verhaftungen zwischen April 2009 und Oktober 2011 an –, vertrauten einige dem Friedensversprechen Erdoğans, mit dem er gegen die Traditionalisten polemisierte. Der inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan näherte sich der Rhetorik der Muslimbrüder an, als er in seiner Botschaft im März 2013 von einem 1 000jährigen Leben »unter der Flagge des Islam« und nach dem »Gesetz von Brüderlichkeit und Solidarität« sprach.
Das Anschmiegen Öcalans an die von Erdoğan und der Regierungspartei AKP vertretene neoosmanische Propaganda rief entschiedene Kritik hervor. Vor allem Aleviten protestierten vehement angesichts der 1 000jährigen Verfolgung religiöser Minderheiten: die Deportationen der Kızılbaş unter Sultan Bayezid II.; die Massaker an den Yeziden unter Süleyman I.; die vom selben Sultan angefragte Fatwa des Großmufti Ebu Suud, nach der es religiöse Pflicht sei, Aleviten zu töten; die antiarmenischen Massaker unter Abdülhamid II., einem Idol Erdoğans.

Während der Revolte der säkularen Jugend im Jahr 2013, die aus den Istanbuler Protesten gegen die Bauprojekte auf dem Gelände des Gezi-Parks hervorgegangen war, blieb es im Südosten weitgehend still, viele fürchteten, dass auf das Regime der Muslimbrüder wieder ein Regime von Gnaden des Militärs folgen könnte. Bei Sırrı Sakık von der BDP, damals Abgeordneter im türkischen Parlament, schlug die nicht unbegründete Skepsis in Identifikation mit dem Aggressor um, er forderte die Zerschlagung der Proteste als Keim einer nationalistischen Verschwörung, während viele seiner Istanbuler Genossen an diesen teilnahmen. Doch so wenig wie Nationalisten die Revolte vereinnahmen konnten, so wenig war der Südosten durch neoosmanische Nostalgie zu befriedigen. Als im Juni 2013 in Lice in der Provinz Diyarbakır ein junger Mann bei antimilitaristischen Protesten sein Leben verlor, solidarisierten sich die Revoltierenden in Istanbul unter dem Banner »Taksim, Lice, Schulter an Schulter«. Im selbem Jahr etablierte sich die Halkların Demokratik Partisi (HDP) als Dachorganisation sowohl kurdischer Gruppen wie der BDP als auch der säkularen Bewegungen; sie versteht sich ausdrücklich auch als Organisationskern für von tugendterroristischer Verfolgung Betroffene wie Homo- und Transsexuelle.
Blieb vom Glücksversprechen der von Mustafa Kemal in den zwanziger und dreißiger Jahren etablierten Modernisierungsdiktatur vor allem der Zwang zur Türkisierung, während die feudale Blutsenge weiterhin über den Einzelnen herrscht und das ökonomische Elend anhält, verspricht die Despotie der Muslimbrüder Gleichheit im Millet der Gläubigen. Doch die Gleichheit kann nicht anders als negativ realisiert werden. Die Muslimbrüder denken den Staat als Familie und sehen ihren Atatürk, Tayyip Recep Erdoğan, als strengen Vater, wo doch die patriarchale Familie nur als Staat gedacht werden kann und die Muslimbrüder die Zwänge der Blutsenge zur Tugend erheben. Die Gleichheit im Millet wird schließlich konkret in der Ungleichheit der anderen: der Ungläubigen und Abtrünnigen. Bei der feierlichen Einweihung des Flughafens Selahaddin Eyyubi in Yüksekova in der südöstlichsten Provinz Hakkari am 26. Mai vorigen Jahres begründete Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu die Entscheidung, den Namen des kurdischstämmigen Sultans zu wählen, der im Jahr 1187 Jerusalem eingenommen hatte: »Ja, das ist unser Führer. Ja, das ist das Symbol unserer Einigkeit. Alle, die behaupten, Jerusalem sei die heilige Stadt der Juden, sollen sich dafür schämen.« Der Judenhass ist der ideologische Kitt auch der Muslimbrüder und verhält sich komplementär zum eigenen imperialen Wahn.
Doch allein durch den Begriff des Wahns erschließt sich die Ideologie der Muslimbrüder nicht. Sie gewinnen ihr Brüllvieh nicht oder wenigstens nicht allein aus der Prekarisierung ihrer Klientel; vielmehr verschränken sie moralische Erbauung und islamistische Verhetzung mit der Aussicht auf eine ökonomische Karriere. Sie haben ein Ideal von der Ökonomie als Ameisenkollektiv und von der Gewalt des Souveräns als väterliche Erziehung zu Disziplin und Frömmigkeit im Gebet wie in der Fabrik. Erdoğan befindet sich dabei in Tradition des Begründers der Erweckungsbewegung Milli Görüş, Necmettin Erbakan, der sich in einem Traktat aus dem Jahr 1975 fragte, wie denn das türkische Vaterland, als Nabel des gewaltigen osmanischen Imperiums, so verkümmern konnte. Erbakan sieht die Ursachen einerseits in der Entfremdung vom Islam und andererseits in der perfiden Nachahmung arabischer Techniken der Naturbeherrschung durch das Millet der Ungläubigen. Seine zentrale Forderung war folglich: »Wieder eine große Türkei«, Industrialisierung und moralische Überformung der Ökonomie durch einen türkisierten Islam.

Er und die Seinen hätten Yüksekova Hunderte Kilometer Asphalt geschenkt, so Erdoğan bei der Einweihung des Flughafens Selahaddin Eyyubi. Gebracht hat es ihnen dort nichts, unweit von der Festveranstaltung wurden kanisterweise Reizgas gegen Protestierende eingesetzt. 94 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten in Yüksekova für die HDP. Was die Despotie der Muslimbrüder in diesen Tagen in den abgeriegelten Distrikten des Südostens verfolgt, ist nicht der staatsloyale Kurde, der buckelt und sich über das Urnengrab beugt. Sie verfolgt jene, die Misstrauen provozieren, anderes mit ihrem Leben vorzuhaben, als »die Generation von 1071« (in diesem Jahr gewannen die Seldschuken eine bedeutende Schlacht gegen die Byzantiner) und als Nachkommen von Selahaddin Eyyubi Jerusalem und Damaskus einzunehmen. Die Muslimbrüder kommen über die Religion zu denselben Konsequenzen für die Abgefallenen des Vaterlandes wie die Anhänger des Kasernenhof-Republikanismus. Wie nur der eine Gott existiert, so haben auch nur ein Staat, eine Flagge, eine Partei zu existieren. Das Gerücht, das die Muslimbrüder zur Propaganda machen, erklärt Oppositionelle zu Ungläubigen, »Fremden unter uns« oder, wie Erdoğan jüngst über die abgefallenen Intellektuellen sagte, zu »Relikten der Mandatsmächte«.
Star, ein boulevardeskes Organ des Regimes, denunziert die militante Jugend im Südosten als »Kreuzfahrer« und beruft sich auf die Kollaborateure der Konterguerilla unter den Autochthonen. Während im Stadtviertel Sur, dem historischen Kern Diyarbakırs, die Konterguerilla mordet, ruft im Star die Assoziation anatolischer Dorfschützer und Familien der Märtyrer (Anadolu Köy Korucuları ve Şehit Aileleri Konfederasyon) zur Einheit und Solidarität gegen »die Gottlosen« der PKK mit »ihrer Mentalität von Kreuzfahrern« auf. Die »Dorfschützer« sind eine quasi-staatliche Institution der Konterguerilla, gegründet im Jahr 1985 nach einem historischen Vorbild im Südosten: den Hamidiye-Regimentern. Mit diesen sicherte sich Sultan Abdülhamid II. ab 1891 die Loyalität der Aşirets, der kurdischen Stammesverbände, indem er ihre Raubökonomie und Bandenkonkurrenz in den Staatsauftrag der Niederhaltung armenischer Aufstände integrierte. Bei der Serie von Massakern an Armeniern unter Abdülhamid II. (1894–1896) wüteten die Hamidiye-Regimenter vor allem in den heutigen Provinzen Erzurum, Bitlis, Diyarbakır und Şanlıurfa.
Die heutigen Hamidiye, die sogenannten Dorfschützer, funktionieren nach ähnlichen Mechanismen. Mit Absolution durch den Souverän, das Staats-Racket, konnten sie eine Ökonomie aus Zwangsenteignung von Landflächen, räuberischer Erpressung und Schmuggel von Opiaten installieren. Mit vom Staat ausgehändigten Waffen wurden Morde an einigen der verbliebenen assyrischen Christen und Yeziden zur Abschreckung aller begangen, Stammesfehden ausgetragen und Abtrünnige hingerichtet. Auch aus Dorfschützern rekrutieren sich die subunternehmerischen Todesschwadronen des Staates wie die berüchtigten Hançer Timleri, benannt nach einem osmanischen Krummdolch. In der Dorfschützerprovinz Bingöl vereint die AKP Erdoğans nahezu 65 Prozent auf sich; ganze Distrikte hängen finanziell vom Dorfschützersystem ab.

Im Südosten herrscht also kein Kampf der »Völker«, es ist ein Kampf gegen eine Despotie, die, wo sie zu sich kommt, keine Abtrünnigen, keine Dissidenz mehr duldet. Während die Protestierenden in Diyarbakır und anderswo »Leben, nicht der Tod« und »Frau–Leben–Freiheit« rufen, dauert die Serie politischer Morde an. In der Nacht vom 4. auf den 5. Januar wurden in Silopi die Kommunalpolitikerinnen Sevê Demir, Pakize Nayır und Fatma Uyar ermordet. Selma Irmak, Abgeordnete der HDP, weiß um die internationale Konstellation der Morde: »Wir werden nicht vor der Ideologie von Daesh kapitulieren, (…) weder vor dem Staat noch vor Daesh. (…) Das Massaker von Paris wiederholte sich in Silopi.« Daesh ist die in der Region übliche Bezeichnung für den »Islamischen Staat«.
Aus der demokratischen Legitimierung der Despotie der Muslimbrüder ist nicht zu folgern, es gebe in der Türkei keine entschiedene Opposition mehr. An türkischen Universitäten häufen sich die Konfrontationen, wenn Fundraising-Organisationen für die syrische al-Qaida und ihre Ableger Werbestände aufmachen. Vor allem die staatsnahe, aus dem Milieu der Muslimbrüder kommende Organisation İHH gerät ins Handgemenge der Kritik. Wie am Jahrestag der Ermordung von Hrant Dink: Die Kritiker der Despotie sind nicht verstummt, aber sie werden gänzlich alleingelassen.

Der Autor bloggt auf http://cosmoproletarian-solidarity.blogspot.de