Ergänzung

Nach einer alten ästhetischen Weisheit reizt am Kunstwerk gerade seine Unvollständigkeit: jene Lücken, die der Autor der Phantasie überlassen hat, auf dass sie im Bewusstsein des Rezipienten nach Gusto vervollständigt werden können. Deswegen hat ein jeder seinen höchsteigenen Käpt’n Ahab, seine eigene Frau Holle, seinen eigenen Jesus vor Augen, und deswegen kommen Verfilmungen von Büchern oder Ballettfassungen bekannter Skulpturen immer etwas defizient daher – es sind halt nur Interpretationen, und meist schlechte, da auf Allgemeinheit zielende. In der Form der Fanfiction, wie sie im Netz massenhaft verfertigt wird, kann der Rezipient hingegen sein individuelles Interpretationsrecht voll ausschöpfen, darf Lücken schließen, wie es ihm gerade gefällt. Diese Selbstermächtigung des Lesers scheint die Kulturindustrie arg zu wurmen – macht sie sich doch daran, die Lücken in den Werken auf eigene Faust zu schließen, verbindliche Interpretationen für jedermann einzurichten. Begonnen hat der Trend wahrscheinlich mit den »Star Wars«-Prequels, nirgendwo aber wird er deutlicher als im Serialisierungswahn von Netflix. Gefühlt jede zweite Serie befasst sich mit der »spannenden Vorgeschichte« von Batman, Norman Bates, Hannibal Lecter und wie sie alle heißen. So gelungen die Serien im einzelnen auch sein mögen, das Bedürfnis dahinter scheint befremdlich. Es soll letztgültig geklärt werden, was doch gerade in seiner Unbestimmtheit gereizt hat, es soll für alle Zeiten feststehen, warum der Joker ein Psychopath und Jesus Sandalettenfan wurde. Fast immer läuft es auf eine vulgarisierte Psychoanalyse und eine verkorkste Familiengeschichte hinaus. Warum gerade die immer und immer wieder bewiesen werden muss? Das erklärt die spannende Vorgeschichte dieses Talmi – im Herbst bei Netflix!