Kritischer Konsum

Meine Schule ist eine moderne Schule, fest im 21. Jahrhundert verankert, methodisch und inhaltlich voll auf dem Laufenden, kein noch so gleißend heißes Eisen vermeidend, keine Herausforderung scheuend. Mit vollem Einsatz und notfalls gegen ihren Willen erziehen wir die Jugendlichen zum eigenständigen, kritischen Denken, dazu, einen eigenen Standpunkt zu finden in einer immer verwirrenderen Welt und gefälligst erst einmal alles absolut schonungslos in Frage zu stellen. Außer der Anwesenheitspflicht natürlich. Und der Verpflichtung, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen. Oder der Regelung, dass die für das jeweilige Fach benötigten Materialien vor Beginn der Stunde ausgepackt werden müssen. Und dass im Unterricht keine Mützen und Jacken getragen werden und nur nach Aufforderung gesprochen wird. Das alles sollte nicht in Frage gestellt werden, das gäbe ansonsten ja ein vollständiges Chaos. Und auf dem Schulhof dürfen wirklich keine Schneebälle geworfen werden und im Schulgebäude keine Handys benutzt und das Schulgelände darf nicht verlassen werden und im Unterricht soll nicht gegessen oder etwas anderes als Wasser aus verschließbaren Flaschen getrunken oder Kaugummi gekaut werden und noch ein paar andere Sachen, die eben einfach so sind. Aber der ganze große Rest, der darf, der soll, der muss wirklich ganz erbarmungslos in Frage gestellt werden. Meistens weiß ich als Lehrerin natürlich vorher schon die richtigen Antworten auf die derart erbarmungslos gestellten Fragen –, was wäre ich sonst für eine Lehrerin? – aber stellen muss man sie trotzdem, die Fragen, #Demokratie und so, ihr versteht schon.
Weil wir aber eben diese sehr, sehr, sehr moderne Schule sind und mit einem Bein eigentlich schon fast im 22. Jahrhundert stehen, kommt es gelegentlich vor, dass Klassen ganz ergebnisoffen an heikle Fragen herangeführt werden und auf diese Weise zu erfrischenden Ergebnissen gelangen. Das jedenfalls scheint der Hintergrund der Lernplakate zu sein, die eine achte Klasse im Ethikunterricht zum Thema »Sucht« erstellt hat. Am interessantesten ist das Plakat einer Gruppe von fünf ebenso kreuzbraven wie erzkonservativen Mädchen, die zu »Drogen« gearbeitet hat. Der Hintergrund des Plakats ist ein mit Wasserfarben und Spritztechnik kreierter psychedelisch anmutender Farbwirbel, auf den Informationstafeln zu einzelnen Drogen aufgeklebt wurden. Zu »Kokain« sehen wir etwa eine fette Line und darunter die »Vor- und Nachteile« der Droge: »Vorteile: Macht sehr wach. Macht selbstbewusst. Nachteile: Man kann nicht mehr so gut schlafen oder essen.« Ergänzend dazu liest man über Cannabis natürlich: »Vorteile: Entspannt. Hilft beim Einschlafen. Hilft beim Essen, wenn man nicht hungrig ist.« Ich bin manchmal schon sehr froh darüber, dass ich in der Zukunft lebe.