Die Vorlesungen von Pierre Bourdieu zu Édouard Manet

Pinselstriche gegen die Ordnung

Die Vorlesungen des Soziologen Pierre Bourdieu zu Werk und Werdegang des Malers Édouard Manet sind nun auf Deutsch ­erschienen.

Sein berühmtes Bild »Das Frühstück im Grünen« von 1863 verschaffte Édouard Manet den Ruf eines Provokateurs. Von der Abbildung der nackten Frau bis zum formalen Aufbau, kaum ein Aspekt des Bildes blieb von der Kritik verschont. Ebenso war es bei dem dem Akt »Olympia« (ebenfalls 1863), bei dem die bloße Haut mindestens ebenso empörte wie die malerische Gleichbehandlung von Person und Objekten wie dem Blumenstrauß.
Seinerzeit vom Publikum verspottet und von einem Großteil der Kritik verhöhnt, machte aber genau diese malerische Haltung Manet letztlich zu dem, der er heute unbestritten ist: zum Erneuerer der modernen Kunst und – neben Paul Cézanne – zum wichtigsten Wegbereiter der modernen Malerei.
Hat eine soziologische Perspektive diesem kunsthistorischen Konsens noch etwas hinzuzufügen? Die jetzt auf Deutsch erschienenen Vorlesungen des 2002 verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu zum Werdegang und Werk des Malers sind eine rund 900seitige Bejahung dieser Frage. Die Vorträge aus den Jahren 1998 bis 2000 beschäftigen sich zwar auch mit Bildgrößen und ikonographischen Verweisen, mit Gattungshierarchien und den Grundlagen der Kunstkritik. Im Wesentlichen aber geht es Bourdieu um die Weiterentwicklung seiner kritischen Kunstsoziologie. Es geht etwa um die Frage, was als legitime Kunst gilt und was nicht und wer das wie bestimmt. Es geht um Rahmenbedingungen künstlerischen Schaffens, um die Wert verleihende Macht von Institutionen wie dem Museum und um Netzwerke von Künstlerinnen und Künstlern. Es geht um die Konjunkturen von Stilformen, Gattungen und Künstlern, aber auch um die allgemeine, von Generationen kritischer Theoretikerinnen und Theoretiker behandelte Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft.
Davon handeln auch die Manet-Vorlesungen. Nun lässt sich heute, wo Manets Bilder, ähnlich wie die anderer Größen der Kunstgeschichte, Radiergummis und Poster zieren, nur noch schwer nachvollziehen, worin deren Sprengkraft gelegen hat. Oder, wie Bourdieu es formuliert: »Wie hat ein Werk für Keksdosen eine unvorstellbare Gewalt entfesseln können?«
Es geht darum nachzuweisen, dass Manet nicht nur die Kunst umgewälzt hat. Er hat darüber hinaus Sichtweisen verändert. Bourdieu zufolge hat er eine »symbolische Revolution« ausgelöst. Dabei ist das Symbolische bei Bourdieu keineswegs ein Gegensatz zum Realen oder nur ein anderes Wort für Wirkungslosigkeit. Im Gegenteil: Es geht dabei um das Denk- und Wahrnehmbare überhaupt. Eine symbolische Ordnung besteht aus dem Selbstverständlichen und Unhinterfragten, soziologisch formuliert macht sie die »Übereinstimmung zwischen Wahrnehmungsstruktur und Sozialstruktur« aus.
Manets Gemälde waren nicht nur Angriffe auf die zeitgenössische Kunst, ihre werkbezogenen Maßstäbe und ihre Institutionen. Sie attackierten auch die moralischen und politischen Haltungen des Bürgertums. Um sich dennoch durchsetzen zu können, mussten sie zugleich neue Kriterien etablieren, nach denen sie selbst fortan beurteilt wurden. Bourdieu legt sehr viel Wert darauf aufzuzeigen, dass die Effekte von Bildern auf soziale Situationen extrem voraussetzungsreich sind. Um sie zu erklären, spricht er über Manets soziale Herkunft und die seiner Kritiker, seine linken politischen Ansichten und die Struktur des entstehenden Kunstmarkts, das Verhältnis von Kunstkritik und Journalismus und vieles mehr. Das Projekt, dies alles nachzuvollziehen, beschreibt Bourdieu selbst als »monströs«, man benötige eigentlich »ein Leben« dafür.
Besonderes wichtig ist es Bourdieu hervorzuheben, dass Manets Angriffe auf die Bourgeoisie nicht ohne seine spezifisch künstlerischen Abweichungen und Verstöße zu denken sind und ohne sie auch nicht funktioniert hätten. Was das bedeutet, wird gerade in seiner Abgrenzung von marxistischen Kunsttheorien deutlich. Bourdieu setzt sich in den Vorlesungen immer wieder mit den Positionen des marxistischen Kunsthistorikers Timothy J. Clark auseinander. Auch Clark hat sich in seinem Buch »The Painting of Modern Life« (1985) mit Manet beschäftigt und seine Bilder vor dem Hintergrund sozialer Veränderungen analysiert. Ein Versuch, den Bourdieu als »höchst achtenswert und zugleich nicht zu verteidigen« beschreibt.
Bourdieu wendet sich gegen die Vorstellung, die soziale Realität schlage sich in irgendeiner Weise unmittelbar im Bild nieder. Sowohl die Bilder als auch die sozialen Verhältnisse seien viel zu komplex für einfache Ableitungen. Einerseits hätten also die herrschenden Gedanken, selbst wenn sie, wie Marx in »Die Deutsche Ideologie« vereinfachend meinte, immer nur die Gedanken der Herrschenden wären, noch unzählige Möglichkeiten der Repräsentation. Deshalb sind die sozialen Verhältnisse auch nicht unbedingt Gegenstand der künstlerischen Arbeit selbst. Wenn man schon nach den sozialen Klassen forsche, schreibt Bourdieu, sollte man sie »vielleicht doch da suchen, wo sie sind und nicht notwendig in den Bildern direkt«. Die sozialen Klassen finden sich in den Praktiken, die die Bilder und die Arten und Weisen, sie zu sehen, hervorbringen.
Das können die Vorlesungen tatsächlich zeigen: Hier kämpfen nicht nur proletarische gegen bürgerliche Intellektuelle, linke gegen rechte Künstlerinnen und Künstler, aufstrebende Journalisten gegen etablierte Literaten und marktfreundliche gegen staatliche Instanzen. Erst diese Vielzahl widerstreitender sozialer Positionen führt zu neuen Wahrnehmungsformen. Ästhetik und Kunst im engeren Sinne sind da zwar nur ein Beispiel, aber eines von Gewicht. Und dieses Eigengewicht vernachlässige der Marxismus zumeist. Der Fehler von Clark und anderen Vertretern marxistischer Ansätze liegt Bourdieu zufolge in einem Kurzschluss: Statt die kunsteigenen Maßstäbe und Mechanismen ernst zu nehmen, würden sie gleich vom großen Ganzen aufs einzelne Kunstwerk schließen. Clark etwa gehe »unvermittelt vom Makrokosmos zum einzelnen Bild über, unter Vernachlässigung des Mikrokosmos«.
Die Abgrenzung von marxistischen Erklärungsmodellen wird durch die vielen empirischen Verweise durchaus plausibel. Darin unterscheiden sich die Manet-Vorlesungen auch von Bourdieus Vorlesungen »Über den Staat«. In den Ausführungen zur Staatstheorie aus den frühen neunziger Jahren, die 2014 auf Deutsch erschienen waren, hatte der Soziologe auch immer wieder die Distanz zum Marxismus herausgestrichen. Allerdings beschränkte er sich dabei auf Andeutungen, gerade dort, wo er über Theoretiker mit ähnlichen Herangehensweisen wie etwa Antonio Gramsci oder Nicos Poulantzas referierte.
In den Vorlesungen zu Manet hingegen mündet die akribische Aufarbeitung der historischen Situation in eine überzeugende Theorie. Wie einzelne Pinselstriche nicht nur moralische Empörung auslösen, sondern ganze Denksysteme erschüttern können, ist jedenfalls selten so einleuchtend erläutert worden.
Mit der Analyse der bildenden Kunst im 19. Jahrhundert ergänzt Bourdieu die Untersuchung zur Literatur aus seinem kunstsoziologischen Hauptwerk »Die Regeln der Kunst« (1992). Hier hatte er sich den Werken von Gustave Flaubert und ihren Produktionsbedingungen gewidmet. Wie Manet Formalist und Realist zugleich, wird Flaubert für die Literatur eine ähnlich revolutionäre Rolle zugedacht wie seinem Malerkollegen. Darüber hinaus geht es Bourdieu aber auch um politisch-theoretische Interventionen in die Gegenwart. Denn zu verstehen, wie gegen die Autoritäten des eigenen Feldes und gegen die bürgerliche Klassengesellschaft zugleich vorgegangen werden kann, ist nach Bourdieu auch die Voraussetzung für den Erfolg jeder zukünftigen »Strategie des Doppelschlags«.

Pierre Bourdieu: Manet. Eine symbolische Revolution. Vorlesungen am Collège de France 1998–2000. Mit einem unvollendeten Manuskript von Pierre und Marie-Claire Bourdieu. Suhrkamp, Berlin 2015, 921 Seiten, 58 Euro