Ein Buch über die Entstehung des Jihadismus in Frankreich

Schule oder Jihad

Der französische Soziologe Gilles Kepel schreibt die Geschichte der Radikalisierung.

Auf den ersten Blick wirkt es sensationslüstern, das Buch, das zwei französische Autoren zu Beginn dieses Jahres auf den Markt brachten, wenige Wochen nach den ­Attentaten vom 13. November. Den Haupttitel, »Terror im Hexagon« – der letztgenannte Begriff, gleichbedeutend mit »Sechseck«, wird allgemein als Synonym für das französische Staatsgebiet benutzt – hat der Verleger in die Nationalfarben Blau, Weiß und Rot getaucht. Begleitet wird er von der Unterüberschrift »Entstehung des französischen Jihad«. Der prominentere der beiden Verfasser ist ­Gilles Kepel, der als Islamspezialist und als Kenner der zeitgenössischen arabischen Politik gilt und an mehreren Pariser Hochschulen unterrichtet; sein Co-Autor, Antoine Jardin, ist Sozialforscher mit einem Schwerpunkt auf politischer Soziologe der Armenviertel und Trabantenstädte. Der Text, geordnet in sechs Kapitel, ist erheblich weniger marktschreierisch. Die Verfasser versuchen darzustellen, wie zwei größere Entwicklungen aufeinandergetroffen seien: soziale und politische Veränderungen in den Wohnorten der Unterklasse mit oder ohne Migrationshintergrund innerhalb Frankreichs auf der einen, eine Veränderung – die Autoren nennen sie auch »Mutation« – des internationalen Jihadismus auf der anderen Seite.

Letztere machen die Verfasser an einem 1 500 Seiten langen Text fest, der im Januar 2005 im Internet erschien und den Titel »Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand« trägt. Dessen inzwischen inhaftierter Autor führt den Kampfnamen Abu Musab al-Suri (der Syrer), sein bürgerlicher Name lautet Mustafa Setmariam Nasar. Sein Text lässt sich ungefähr mit dem ähnlich langen »Manifest« vergleichen, das der Norweger Anders Behring Breivik im Juli 2011 zur Rechtfertigung der von ihm verübten Mordanschläge ins Netz stellte. Die beiden Verfasser betrachten al-Suris Text als Dokument von zentraler Bedeutung, da es die Übergänge zu neuen Formen des radikalen Islamismus darstelle, welche sich – ihrer Analyse zufolge – gleichzeitig mit der Verbreitung des Internets und dem Aufkommen neuer sozialer Medien vollzogen. Seine Bedeutung werde unterschätzt, obwohl das Dokument sich in den vergangenen Jahren als PDF-Datei auf zahllosen Websites und Facebook-Accounts radikaler Islamisten befunden habe.

Der 1958 im syrischen Aleppo geborene al-Suri kämpfte in den achtziger Jahren im anti-sowjetischen Jihad in Afghanistan. Aus diesem Grund kann er die Erfahrungen verschiedener Generationen bewaffneter Islamisten miteinander verbinden; er kennt aber auch Europa gut. Al-Suri begann ein Studium der Ingenieurswissenschaften in Frankreich und erhielt später durch Heirat die spanische Staatsbürgerschaft. In den neunziger Jahren zog er in das als »Londonistan« bezeichneten Wirkungsgebiet radikaler Islamisten in der britischen Hauptstadt, rund um die berüchtigte Moschee von Finsbury Park, und versuchte, Jihadisten an neuen Wirkungsorten publizistisch und agitatorisch zu unterstützen. Seine Anstrengungen galten damals den Bürgerkriegsschauplätzen Bosnien und Algerien, wo er die Niederlage der bewaffneten Islamisten – die im einen Fall gegen Serbien, im anderen gegen das Regime in Algier kämpften – konstatieren musste. Im Rückblick auf den 11. September 2001 zieht er aber auch eine teilweise kritische Bilanz aus der Vorgehensweise von al-Qaida und attestiert dem Netzwerk eine gewisse Ineffizienz.

Al-Suri schreibt, die erste Generation von Jihadisten – in den Neunzigern in Afghanistan, dann auch in Algerien und Ägypten – habe »den nahen Feind« angegriffen und bekämpft, sei damit jedoch an ihre Grenzen gestoßen. Daraufhin habe al-Qaida eine hochgradig zentralisierte – der Form nach »leninistische« – Organisation geschaffen und versucht, alle Kräfte auf »den fernen Feind« zu konzentrieren, in Gestalt der zum Hauptfeind erkorenen USA. Doch sei die Organisation nicht in der Lage gewesen, Sympathisanten in den muslimischen Bevölkerungen eigene Handlungsperspektiven anzubieten. Der Impuls versandete darum, von al-Suri, der Ussama Bin Laden »Hybris« vorwirft: Letztlich habe er lediglich George W. Bush eine Steilvorlage für dessen militärische Eingriffe geliefert – und über keinerlei soziale Basis verfügt, weil deren Aufbau vernachhlässigt worden sei. Al-Suri propagiert darum eine neue Aktionsform nach dem Graswurzelprinzip. Vor allem in Europa lebende Sympathisanten sollten rekrutiert werden, um den Krieg auch dorthin zu tragen und den Einfluss der jihadistischen Ideologie wie ein Rhizom von unten her auszubreiten. Das Motto: ein System, keine Organisation.

Dieses neue Organisationsprinzip trifft nun, den beiden Autoren zufolge, auf neuartige ­Rekrutierungsmöglichkeiten innerhalb Frankreichs, die sich dort durch soziale und politische Krisenentwicklungen eröffnet hätten. Ähnlich wie bei den Jihadisten – aber auf anderen Grundlagen – gibt es ihnen zufolge auch dort einen Wandel, den sie als Generationswechsel analysieren. Die erste Generation war demnach jene der jungen Franzosen mit Migrationshintergrund und mehrheitlich mit Unterklassenzugehörigkeit, die sich in den frühen achtziger Jahren zunächst nicht für spezifisch islamische Ziele, sondern eher für universelle Rechtsgleichheit engagierten. Am besten lässt sich dies am »Marsch für Gleichheit« vom Herbst 1983 aufzeigen – einem Fußmarsch arabischstämmiger Franzosen von Marseille über Lyon und Roubaix bis nach Paris, wo sie von einer Demonstration von 100 000 Menschen empfangen wurden. Doch diese erste Generation wurde bitterlich enttäuscht. Orga­nisationen wie die damals gegründete Vereinigung SOS Racisme griffen den Impuls scheinbar auf, kulturalisierten und folklorisierten ihn jedoch und appellierten zugleich an die institutionelle Politik, die keine Veränderungen herbeiführte.

Die zweite Generation war demnach jene, die eine gewisse »Reislamisierung« vollzog, was sich etwa in der konservativ-reaktionären Muslimorganisation UOIF mit Verbindungen zu den Muslimbrüdern artikulierte. Deren Kader und Imame waren in der Regel keine Franzosen mit Migrationshintergrund, sondern waren in den Ländern Nordafrikas aufgewachsen und als Erwachsene nach Frankreich gekommen, um dort ihre Botschaft zu verbreiten. Kepel und Jardin konstatieren das Scheitern des Versuchs, eine ideologische Hegemonie über »ihre« Community zu behaupten, spätestens ab dem Herbst 2005. Anlässlich der damaligen Riots in vielen französischen Trabantenstädten und Einwanderervierteln rief die damals noch mit Innenminister Nicolas Sarkozy verbündete, UOIF zu Ruhe und Ordnung auf und verurteilte die Randale in eigens erlassenen Fatwas als gottloses Treiben. Die Jugendlichen erreichte sie mit diesem Vorgehen nicht. Sarkozy kündigte seine Allianz mit der UOIF auf und setzte alsbald auf eine eher muslimfeind­liche Rhetorik.

Auch Kepel und Jardin konstatieren das Scheitern der konservativen Ansätze, wie sie die Moschee- und Kulturvereine vertreten. Dennoch, so behaupten sie, habe es eine spezifisch islamische Komponente in den damaligen Unruhen gegeben. Diese leiten sie daraus ab, dass eine Woche nach dem auslösenden Moment – dem Tod der beiden Jugendlichen Bounna Traoré und Zyed Benna – in Clichy-sous-Bois eine Tränengasgranate in die offene Tür einer Moschee gefallen sei, was die Gläubigen über die Stadt hinaus mobilisiert habe. Dieses Element sei zu jener Zeit unterschätzt worden. Darüber lässt sich sicherlich streiten. Über das Ereignis wurde ausführlich berichtet, ob es eine religiöse Aufladung der Unruhen bewirkt hat, ist jedoch zweifelhaft. In einem Bericht der französischen politischen Polizei (Renseignements généraux) vom Dezember 2005 wird die Rolle von Islamisten bei den ­Riots eher bestritten, es werden vorwiegend ökonomische Ursachen angeführt.

Kepel und Jardin sind einerseits feine Beobachter, die für den Zeitraum von 2005 bis Ende vergangenen Jahres zahlreiche politische Einzelheiten zusammentragen und zu einem Bild zusammenfügen. Auf der anderen Seite lieben sie es jedoch auch, widersprüchliche Entwicklungen in ein einfaches Schema zu zwingen und eine Art Stufenplan der Generationen zu entwerfen. So bezeichnen sie den Herbst 2005 als den Moment einer »Begegnung der dritten Art« zwischen einer »dritten Generation« unter französischen Muslimen und einer »dritten Generation« im internationalen Jihadismus. Dies ergibt ein prägnantes Bild, aber stimmt die Analyse überhaupt?

Die Jahre nach 2005 zeichnen die Verfasser anhand zahlreicher Beispiele, wie etwa unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys die damals staatsoffizielle »Debatte zur nationalen Identität« kulturalisierende und identitätsfixierte Orientierungen befördert habe. Für das Jahr 2012 konstatieren sie das Aufkommen eines »muslimischen Votums«, da die Wählerschaft nordafrikanischer Herkunft und mal mehr, mal weniger stabiler muslimischer Ausrichtung in überwältigender Mehrheit gegen Amtsinhaber Sarkozy und für seinen Herausforderer François Hollande gestimmt habe: Sarkozy wurde als ehemaliger Innenminister mit den Ereignissen in den Banlieues von 2005 identifiziert. Dieses Stimmbündnis mit der Linken habe das frühere Klassenbündnis, das die migrantische Arbeiterschaft mit der fran­zösischen KP eingegangen sei, das jedoch durch deren Niedergang obsolet geworden sei, abgelöst. Aufgrund von zwei Faktoren sei es jedoch zerfallen: Einerseits durch die Annahme des Gesetzes zur Homosexuellenehe, das konservative Muslime von der etablierten Linken entfernt habe. Die Verfasser sprechen hier von einem alternativen Bündnis zwischen Katholiken und Muslimen – wobei Muslime bei den Demonstrationen nur eine Minderheit stellten. Zum anderen habe die Wirtschaftspolitik und die anhaltende soziale Krise in den Banlieues dazu geführt, dass sich muslimische Wähler von Hollande abwandten. Dieses Vakuum, so lauten ihre zentrale These, versuchten Kräfte des politischen Islam zu füllen.

In das Jahr 2012 fallen auch die dem Drehbuch al-Suris folgenden Morde, die der französische Jihadist Mohammed Merah unter an­derem an drei jüdischen Kindern verübte. Merah fungiert den Autoren zufolge als role model für die Jihadisten der »dritten Generation«.

Beide Verfasser verweigern eine essentialisierende Sichtweise, die alle Muslime zu einer Einheit verschmelzen würde. In ihrem Nachwort stellen sie zu ihrer Methodik klar, sie betrachteten die muslimische Bevölkerung in Frankreich als »von Spannungen durchzogen« – aufgrund von Akteuren, die sich »um die Hegemonie in ihrer Vertretung« stritten – und »nicht als ihrer sozialen Konstruktion vorausgehende religiöse Gemeinschaft«. Der Einfluss reaktionärer Kräfte wie des FN und des Islamismus könne nur zurückgedrängt werden, so lautet das Fazit der Autoren, wenn die Bildung der Jugendlichen einen größeren Stellenwert bekomme. Noch, mahnen die beiden, sei das Bildungswesen nicht gänzlich kaputtgespart worden. Ein Kollaps der Bildungsinstitutionen sei das Letzte, was sich die Gesellschaft leisten könne.

 

Gilles Kepel und Antoine Jardin: Terreur dans l’Hexagone. Genèse du djihad français. Gallimard, Paris 2016, 330 Seiten, 21 Euro