Gespräch mit den Freiwilligen von »Moabit hilft«

Viele helfen, einer lügt

Die Falschmeldung vom Tod eines syrischen Flüchtlings in Berlin hat die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die anonymen Drohungen gegen die freiwilligen Flüchtlingshelfer haben seither zugenommen. An den desaströsen Zuständen für Flüchtlinge am Landesamt für Gesundheit und Soziales hat sich hingegen nichts geändert.

In einem weißen Zelt vor »Haus D«, einem mehrstöckigen Backsteingebäude auf dem Gelände des Berliner Landesamts für Gesundheit und Soziales (Lageso), drängen sich die Menschen. Davor stehen einige junge Männer, die man an ihren grünen Jacken als freiwillige Helfer der Organisation »Moabit hilft« erkennt. Eine Stahltreppe führt in das Gebäude. In einem Vorzimmer drängen sich ebenfalls Menschen, um dort von den Helferinnen und Helfern von »Moabit hilft« Winterkleidung und Hygieneartikel entgegenzunehmen. Es herrscht reger Betrieb. Zurufe auf Urdu, Deutsch und Arabisch erfüllen die Luft.

»Etwa die Hälfte unserer Leute sind selbst refugees«, sagt Christiane Beckmann, eine Frau mit Brille und langen, lockigen braunen Haaren. Ein Schild an ihrer grünen Jacke weist sie als Pressesprecherin von »Moabit hilft« aus. Mit einiger Mühe hat sie sich eben aus dem Hinterzimmer durch die kleine Menschenmenge gekämpft und steht nun für ein Gespräch auf der kleinen Veranda vor dem Eingang.
Es ist nur eines von sehr vielen Pressegesprächen, das Beckmann in den vergangenen Tagen führen musste. »Wir wurden ja quasi mit der Meldung aus dem Schlaf geholt«, sagt sie. Kaum jemand von den Helfern bekam es mit, als in der Nacht zum Mittwoch voriger Woche ein inzwischen bundesweit bekannter freiwilliger Helfer auf Facebook den Tod eines syrischen Flüchtlings auf dem Weg zum Krankenhaus vermeldete. Dirk V. war nicht bei »Moabit hilft«, sondern hatte als Wohnungseigentümer über Monate Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen. Er war dem Netzwerk als engagierter Helfer bekannt. Am Morgen nach der Veröffentlichung der Nachricht auf Facebook fiel dann schon die Presse über die unvorbereiteten Helferinnen und Helfer her.
Nach Rücksprache per SMS von »Moabit hilft« mit Dirk V. und anderen Helfern erhob die Organisation schwere Vorwürfe gegen die Berliner Verwaltung, unter anderem verlangte sie den Rücktritt von Sozialsenator Mario Czaja (CDU), sollte sich die Meldung bewahrheiten. Daran hatte zunächst offenbar niemand gezweifelt – alle, die sich mit der derzeitigen Situation von Flüchtlingen in Berlin beschäftigen, ob Presse, Polizei, Verwaltung oder Hilfsorganisationen, schienen kaum überrascht zu sein. Nicht zuletzt war nur wenige Tage zuvor bekannt geworden, dass angesichts der verschleppten Auszahlung von Geldern Flüchtlinge sich nicht ausreichend mit Essen versorgen konnten und Hunger litten.
Doch wo war der verstorbene Syrer? Kein Krankenhaus schien von ihm zu wissen. Schließlich gestand Dirk V. der Polizei, er habe die Geschichte erfunden. Daraufhin begann insbesondere Innensenator Frank Henkel (CDU) mit schärfsten verbalen Gegenangriffen. Er sprach von einer »perfiden Aktion«, gegen die man polizeilich ermitteln müsse. Die Polizei indessen bestritt, dass in diesem Fall eine Straftat vorliege, auch wenn der Interneteintrag »die ganze Republik verrückt gemacht« habe, so eine Sprecherin der Polizei. Diese Einschätzung war keine Übertreibung. An den Reaktionen auf das Geschehen zeigte sich einmal mehr, wie angespannt die Stimmung beim Thema Flüchtlinge ist. »Moabit hilft« distanzierte sich unmissverständlich von Dirk V., nachdem sich seine Geschichte als Lüge entpuppt hatte. Die Organisation gestand es zudem als großen Fehler ein, den Mann zunächst bei der Verbreitung der Falschmeldung unterstützt zu haben.

Der Alltag verläuft aber trotz der Schlagzeilen offenbar wie gewohnt. »Für unsere Arbeit hat sich eigentlich wenig geändert«, sagt Beckmann. Ungefähr 40 Helferinnen und Helfer versorgen täglich etwa zehnmal so viele Flüchtlinge mit gespendeten Kleidern, Hygieneartikeln und Tee. Im Sommer waren es sogar regelmäßig 150 gewesen, als man noch die vor dem Lageso campierenden Flüchtlinge mit Essen versorgen musste. Das ist aber nicht mehr nötig. Gebraucht wird zurzeit vor allem Winterkleidung. Auch an internetfähigen Computern und Mobiltelefonen herrscht Bedarf, damit die Flüchtlinge mit der Außenwelt kommunizieren können, vor allem mit ihren Familien im Ausland.
Familiär geht es auch im Kreis der Helferinnen und Helfer zu. »Die refugees, die hier arbeiten, kommen meist nachmittags nach dem Deutschkurs zu uns«, so Beckmann. Die Arbeit biete eine willkommene und sinnvolle Abwechslung von der Monotonie des Wartens in den Unterkünften, aber auch sozialen Zusammenhalt. Viele Flüchtlinge kämen »aus Gesellschaften mit sehr viel engerer Familienbindung«, als man das in Deutschland gewohnt sei.
Etwas habe sich allerdings schon verändert, muss Beckmann eingestehen. Die Zahl der täglich eingehenden anonymen Bedrohungen habe zugenommen, auch die der gehässigen Postings auf Facebook, auf denen Bilder und Namen von Helferinnen und Helfern veröffentlicht werden. Einige Fotos stammten dabei direkt vom Gelände des Lageso und aus den Räumen, in denen »Moabit hilft« arbeitet. Es träfen E-Mails ein, in denen Dinge stehen wie »Wir wissen, auf welche Kita dein Kind geht« – nebst Nennung der Kita. Es gebe Pizzabestellungen an die Hausadresse oder Fäkalien vor der Haustür. Die Täter? »Wir gehen von organisierten Neonazis aus«, sagt die Pressesprecherin. Ob man schon versucht hat, dagegen etwas zu unternehmen? Beckmann winkt ab: Keine Chance. Auch von der Polizei scheint sie sich wenig zu erhoffen. Einschüchtern lassen wolle sie sich durch diese Drohungen nicht – dazu sei ihr die Arbeit mit den Flüchtlingen viel zu wichtig, eine Arbeit, die ihr selbst und ihren Kolleginnen und Kollegen eine Form von Zusammenhalt verschaffe, wie man sie sonst kaum irgendwo erlebe.

Tatsächlich scheinen auch die einheimischen Helferinnen und Helfer aus dem Zusammenhalt und der Anerkennung einen beträchtlichen Anteil ihrer anhaltenden Motivation zu schöpfen. Auf die Frage, ob sich nach einem halben Jahr des ehrenamtlichen Engagements inmitten von Menschen, die unter katastrophalen Bedingungen leben, auch so etwas wie Frustration und Erschöpfung bemerkbar machten, wirkt Beckmann ehrlich erstaunt. »Nein«, antwortet sie umgehend, »dazu macht das Miteinander viel zu sehr Spaß.« In der Hilfsarbeit habe sich ihr eine geradezu vorbildliche Form menschlicher Interaktion gezeigt, so »wie es eigentlich sein sollte«. Hier arbeiteten »der Iraner mit dem Iraker«, Mitglieder aller Religionen, vom »Moslem bis zum Buddhisten«, und Menschen der unterschiedlichsten Herkunft friedlich miteinander. Die engsten Freundschaften habe man geschlossen.
Ein junger Mann mit grüner Überjacke umarmt die Pressesprecherin im Vorbeigehen, fast als wolle er ihre Worte bestätigen. Auch die Vorurteile über traditionelle Geschlechterrollen, die seit der Silvesternacht von Köln in ganz Deutschland diskutiert werden, hätten sich in ihrer Arbeit nicht bestätigt. »Ich wurde hier von Anfang an von allen mit völligem Respekt behandelt«, sagt Beckmann, das habe auch nichts mit versteckter Herablassung zu tun. Viele nennen sie sogar »Mama«, wie sie mit einem Lächeln im Gesicht erzählt.